Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
feucht. Schwer atmend drückte sie sich mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür und versuchte sich zu beruhigen.
    Also gut   … Es ist doch jemand hier. Lea, du warst unvorsichtig bis an die Grenze der Dummheit! Was hast du dir bloß dabei gedacht?
    Eine gusseiserne Klinke knirschte vernehmlich, die Holztür zum Kellergewölbe knarrte. Schritte tappten über die Stufen. Erneut flammte das Licht auf – Lea konnte es deutlich sehen, denn die Seitentür zum Kartoffelkeller bestand nur aus grob behauenen Brettern, sodass der Schein der Deckenbirne durch zahllose Ritzen und Spalten drang. Unfähig, ihre Neugier zu bezwingen, spähte sie durch eine der Spalten, die kaum breit genug gewesen wäre, um einen Bleistift hindurchzustecken.
    Ein Mensch hatte den Kellerraum betreten und durchmaß ihn mit langsamen Schritten. Lea konnte zunächst nur ein Stück nacktes Bein erkennen. Eine Katze – nicht die gescheckte von vorhin, sondern eine schneeweiße – folgte der Gestalt und schmiegte sich an ihre Wade. Eine Hand senkte sich herab, um dem Tier über den Kopf zu streichen.
    Diese Hand,
dachte Lea beim Anblick der zartgliedrigen Finger.
Ich habe sie schon einmal gesehen.
Vorsichtig verlagerte sie ihr Gewicht und reckte sich ein wenig, um durch eine andere Spalte zu blicken, die einen besseren Winkel bot.
    Ihre Vermutung bestätigte sich: Die Gestalt stand mitten im Raum und blickte sich forschend um. Den Kopf hatte sie abgewandt, doch Lea sah ihr Gesicht in dem hohen Barockspiegel an der Wand. Es war von langem schwarzem Haar eingerahmt, hatte eine weiche Augenpartie und eine zierliche Nase, doch ein unpassend kräftiges Kinn.
    Lea unterdrückte ein Keuchen, denn sie hatte nicht nur zweifelsfrei die Haushälterin erkannt, die ihr am Nachmittag gegenübergestanden hatte, sondern zugleich einige Ungereimtheiten bemerkt, die den Körperbau der Unbekannten betrafen. Sie trug lediglich ein dunkles T-Shirt und eine Unterhose, als wäre sie vom Sofa oder aus dem Bett geholt worden, und das knochige Profil der stark behaarten Schienbeine war ebenso irritierend wie die flache Brust. Die vermeintliche Haushälterin drehte sich auf der Stelle, und Lea erhaschte einen Blick auf die Vorderseite ihres Beckens, wo die Hose sich in charakteristischer Weise ausbeulte.
    Das ist ein Mann!
    Darüber konnte kein Zweifel bestehen. Seine Maskerade war vermutlich nicht einmal schwierig, denn das altersloseGesicht ging ohne weiteres als das einer Frau durch, zumal auf Wangen und Kinn nicht einmal ein Schatten eines Bartes zu erkennen war. Der Unbekannte war mittelgroß und von untersetzter Statur, doch die zartgliedrigen Hände und Füße ließen seine Frauenrolle glaubhaft erscheinen, solange der Rest des Körpers unter einem knöchellangen Kleid verschwand. Das lange schwarze Haar war ohne Zweifel eine Perücke: Es glänzte allzu geschmeidig, und an den Schläfen glaubte Lea den Ansatz des natürlichen Haars zu erkennen, das graublond und kurz war.
    Ungläubig starrte sie durch den Spalt. Damit also zerrann ihre Theorie, die Haushälterin könne in Wahrheit Christine Herforth sein. Ein Mann lebte auf diesem Hof, offensichtlich allein, und spielte die Rolle der Putzfrau – wahrscheinlich um den Eindruck zu erwecken, das Haus stehe leer.
    Trotzdem könnte er es sein, der Christines Geist darstellt,
erkannte Lea plötzlich.
Das Gesicht braucht nur eine Schicht Schminke – schließlich hat er Übung darin, sich als Frau zu verkleiden. Aber warum tut er das?
    Das Holz knarrte unter ihren Fingern, denn in ihrer Erregung hatte sie sich eng an die Tür gedrückt, um besser sehen zu können. Augenblicklich fuhr der Unbekannte herum, und sein Blick schoss zu der Tür herüber. Entsetzt zog sich Lea von ihrem Beobachtungsplatz zurück und kroch in die Finsternis seitlich des Eingangs.
    Von wegen taubstumm   …
    Ihr Herz klopfte heftig. Der heimliche Bewohner des Hofs verfügte eindeutig nicht nur über männliche Gene, sondern auch über ein intaktes Gehör. Schritte näherten sich der Tür.
    Was jetzt?,
hämmerte es in Leas Kopf.
Was soll ich tun?
    Sie drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, zogdie Knie an und bemühte sich krampfhaft, nicht zu atmen.
    Die Tür wurde aufgeschoben. Eine Taschenlampe flammte auf, deren Lichtkegel über die Wände geisterte. Lea verharrte im Schatten neben der Tür, schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Atem.
    Bitte, komm nicht herein! Bleib draußen! Vergewissere dich nur, dass niemand hier

Weitere Kostenlose Bücher