Das weiße Mädchen
dauerhaft hier wohnt. Der Hof liegt weitab des Dorfes. Er würde also zumindest ein Verkehrsmittel brauchen, um einzukaufen und sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Eine Mülltonne sehe ich auch nirgends.«
»Warte!«, bat Lea, der bei diesen Worten eine Idee kam. Schon bei ihrem ersten Besuch war ihr ein kleiner Geräteschuppen hinter der Scheune aufgefallen. Aus diesem Schuppen war die vermeintliche Haushälterin getreten, eine Harke in den Händen.
»Der ist doch sicher abgeschlossen«, meinte Kai, als sie den Schuppen erreichten und Lea nach der Klinke griff. Er hatte recht: Die hölzerne Tür war fest verriegelt. Sie machten eine Runde um das Gebäude und entdeckten ein sehr kleines Fenster an der Rückseite. Die Scheibe war von Staub und Schmutz fast blind, doch als Lea hineinspähte, fand sie ihre Vermutung bestätigt.
»Schau!« Sie räumte den Platz für Kai. »Da steht ein Fahrrad. Und die grüne Tonne dort hinten an der Wand könnte ein Abfallbehälter sein.«
»Tatsächlich.« Kai hatte beide Hände über die Augen gelegt, um sie gegen das grelle Licht der Nachmittagssonne abzuschirmen. »Ich glaube, du hast recht. Da steht auch ein offener Plastiksack …«
»Wo?«
Erneut tauschten sie die Plätze. Lea stellte sich auf die Zehenspitzen und entdeckte den Müllsack unmittelbar unter dem Fenster. Er war fast voll, aber oben offen, sodass sie die oberste Schicht seines Inhalts erkennen konnte. Es war hauptsächlich zerrissenes und zerknülltes Papier, und ganz zuoberst lagen einige ausgediente Stifte.
»Offenbar hat er einen ziemlichen Papierverbrauch«, meinte Kai. »Taubstumm oder nicht, schreiben kann er jedenfalls.«
»Das sind keine Schreibstifte«, widersprach Lea. »Das sind Touch Marker – spezielle Layout-Stifte, wie Grafiker und Künstler sie benutzen.«
»Aha.« Kai zuckte die Achseln. »Und was sagt dir das?«
Ja, was sagt mir das?,
fragte sich Lea, wandte sich vom Fenster ab und blickte einen Moment ins Leere.
Künstler … Maler … Martin Herforth war Maler, aber er hat ausschließlich mit Ölfarben gearbeitet.
»Mein Gott!«, stieß sie plötzlich hervor, als sich eine Erkenntnis in ihrem Kopf formte. »Vielleicht ist alles ganz anders, als ich dachte. Der Mann, der hier lebt – er könnte
Tom Thanatar
sein.«
»Wer zum Teufel ist Tom Wie-auch-immer? Was hast du mir denn noch verschwiegen?«
»Es gibt einen bekannten Comiczeichner, der seine wahre Identität und seinen Wohnort geheim hält«, erklärte Lea atemlos vor Aufregung. »Tom Thanatar ist sein Pseudonym. In seinen Bildergeschichten taucht mehrmals der Name Verchow auf, ein Grabstein mit Christines Lebensdaten und sogar das verfallene Haus im Wald, das wir neulich besucht haben. Die Fans dieses Zeichners sind überzeugt, dass er auf ein wirklich geschehenes Verbrechen hinweisen will.«
»Das wird ja immer verrückter«, meinte Kai kopfschüttelnd. »Woher weißt du überhaupt davon?«
»Ich habe einen anonymen Informanten, der mir Hinweise auf Thanatars Werke geschickt hat.«
»Aber wenn dieser Zeichner wirklich etwas über Christines Schicksal weiß, warum geht er dann nicht einfach zur Polizei?«
Doch auch das hatte Lea nun begriffen, und sie fragte sich, warum sie nicht schon längst darauf gekommen war. In Tom Thanatars Comics gab es praktisch keine geschriebenen Worte, insbesondere keine Sprechblasen. Alle seine Figuren waren stumm.
»Es stimmt zwar nicht, dass er taub ist«, sagte sie langsam, »aber vielleicht ist er tatsächlich stumm. Er kann sich nicht in Worten mitteilen, deshalb tut er es durch Bilder.«
Kai seufzte. »Lea, bitte verzeih mir, aber deine Ideen werden immer absurder. Zuerst spielt dieser Mann den Geist eines verschwundenen Mädchens, dann plötzlich hältst du ihn für einen Mörder. Dann wiederum soll er ein stummer Zeuge sein, und noch dazu mein Cousin?« Er schüttelte den Kopf. »Letzteres übrigens kannst du endgültig vergessen. Niemand in meiner Familie – absolut niemand – hat jemals auch nur das geringste Talent fürs Zeichnen besessen. Wenn der Kerl überhaupt etwas mit der Sache zu tun hat, ist es dann nicht wahrscheinlicher, dass er ein Verwandter der Herforths ist? Rudi sagte doch, dass der Vater dieses Mädchens Kunstmaler war.«
»Ja …« Angestrengt sortierte Lea ihre Gedanken. Kais Argumentation war nicht von der Hand zu weisen. Schon früher war ihr aufgefallen, wie sehr der Stil des Zeichners Thanatar den Bildern ähnelte, mit denen Christine ihr
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