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Das Werk - 14

Das Werk - 14

Titel: Das Werk - 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Kinderspielzeug große gelbe Omnibusse, buntbemalte Möbelwagen. Der ganze Hintergrund war eingerahmt von den beiden Ufern: auf dem rechten Ufer die von einer Gruppe großer Bäume halb verborgenen Häuser der Quais, aus denen am Horizont eine Ecke des Hôtel de Ville und der viereckige Glockenturm der Kirche SaintGervais emportauchten, die sich beide im Durcheinander der Vororte verloren; auf dem linken Ufer ein Flügel des Institut de France, die flache Fassade der Münze und wiederum Bäume in langer Reihe. Aber was die Mitte dieses riesigen Bildes einnahm, was vom Strom aufstieg, was sich hochreckte, was den Himmel einnahm, das war die CitéInsel, dieser immerdar vom Sonnenuntergang vergoldete Bug des uralten Schiffes. Unten grünten die Pappeln auf dem Erdwall als eine gewaltige Masse und verbargen das Reiterstandbild. Weiter oben hob die Sonne die beiden Gestade voneinander ab, löschte im Dunkel die grauen Häuser des Quai de l’Horloge aus und beleuchtete mit einem Aufflammen die rotgoldenen Häuser des Quai des Orfèvres, Gruppen regellos hingebauter Häuser, so deutlich, daß das Auge die geringsten Einzelheiten daran erkennen konnte, die Läden, die Schilder, sogar die Vorhänge an den Fenstern. Noch weiter oben breiteten hinter der Zackenlinie der Schornsteine, hinter dem schrägen Schachbrett der kleinen Dächer die Ecktürmchen des Palais de l’Industrie und die Dachstühle der Präfektur schieferfarbene Flächen, die von einem an eine Mauer gemalten riesigen blauen Plakat durchschnitten wurden, dessen riesengroße Buchstaben, die von ganz Paris gesehen wurden, gleichsam der Ausschlag des modernen Fiebers an der Stirn der Stadt waren. Weiter oben, noch weiter oben ragten über die Zwillingstürme von NotreDame in ihrer altgoldenen Tönung hinweg zwei Dachreiter empor, hinten der Dachreiter der Kathedrale, links der der SainteChapelle95, die von einer so feinen Eleganz waren, daß sie in der Brise zu beben schienen, stolzes Mastwerk des jahrhundertealten Schiffes, das mitten im Himmel in die Helligkeit hineinstieß.
    »Kommst du, mein Freund?« fragte Christine sanft.
    Claude hörte immer noch nicht, dieses Herz von Paris hatte ihn ganz und gar gefangengenommen. Der schöne Abend erweiterte den Horizont. Da waren grelle Lichter, freie Schatten, eine Heiterkeit in der Genauigkeit der Einzelheiten, ein Durchscheinen der von Fröhlichkeit flirrenden Luft. Und das Leben auf dem Fluß, die Geschäftigkeit auf den Quais, diese Menschheit, die in Wogen aus den Straßen herausquoll, wälzte sich über die Brücken, kam von allen Rändern des ungeheuren Bottichs, dampfte dort in einer sichtbaren Welle, in einem Beben, das in der Sonne erzitterte. Ein leichter Wind wehte, ein Schwarm rosiger Wölkchen segelte hoch droben über den erblassenden Azur, während sich ein ungeheures, langsames Pulsen vernehmen ließ, diese Seele von Paris, die sich rings um seine Wiege ergoß.
    Da ergriff Christine Claudes Arm, war besorgt, ihn so gedankenversunken zu sehen, war erfaßt von unbestimmter Angst; und sie zog ihn mit, als habe sie gefühlt, daß er in großer Gefahr sei.
    »Laß uns nach Hause gehen, du holst dir noch was … Ich will nach Hause gehen.«
    Bei ihrer Berührung zuckte er zusammen, wie jemand, der aus dem Schlaf gerissen wird. Den Kopf zurückwendend, murmelte er dann mit einem letzten Blick:
    »Ach, mein Gott! Ach, mein Gott! Wie schön das ist!«
    Er ließ sich wegführen. Aber den ganzen Abend am Tisch beim Ofen und sogar noch beim Schlafengehen blieb er dann benommen, so mit Gedanken beschäftigt, daß er keine vier Sätze sprach und seine Frau, da sie keine Antwort aus ihm herausbekommen konnte, schließlich ebenfalls schwieg. Bange betrachtete sie ihn: hatte ihn denn eine schwere Krankheit befallen, hatte er sich irgend etwas geholt in der bösen Zugluft auf dieser Brücke? Seine Augen starrten unbestimmt ins Leere, sein Gesicht lief purpurrot an vor innerer Anstrengung, man hätte meinen können, diese Verzückung und diese Übelkeit, die den Frauen bekannt sind, seien die dumpfe Arbeit des Keimens, ein Wesen werde in ihm geboren. Zunächst schien das mühselig, wirr, von tausend Banden behindert zu sein; dann löste sich alles, er hörte auf, sich im Bett hin und her zu werfen, er sank in den schweren Schlaf der großen Erschöpfung.
    Am folgenden Tag rannte er gleich nach dem Frühstück davon.
    Und Christine verbrachte einen schmerzlichen Tag, denn wenn sie sich auch ein wenig beruhigt hatte, als

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