Das Werk - 14
Todeskälte über sie: er ging zur Seine, davor hatte sie immer so gräßliche Angst, wenn sie nachts vor Bangigkeit aufwachte. Und was tun, mein Gott? Mit ihm gehen, sich ihm dort unten an den Hals hängen? Sie schwankte nur noch weiter, und bei Jedem Schritt, der sie dem Fluß näher brachte, fühlte sie, wie das Leben aus ihren Gliedern wich. Ja, er begab sich geradewegs dorthin: Place du ThéâtreFrançais, Place du Carrousel, schließlich die Pont des SaintsPères. Er schritt einen Augenblick auf die Brücke hinaus, trat dann an das Geländer, das über das Wasser hinwegragte, und sie glaubte, er werde sich hineinstürzen; ein lauter Aufschrei erstickte in ihrer Kehle, die wie zugeschnürt war.
Aber nein, er verharrte reglos. War es denn nur die CitéInsel da drüben, die ihm keine Ruhe ließ, dieses Herz von Paris, von dem er so besessen war, daß er den Gedanken daran überall mit sich herumtrug, das er mit seinen starren Augen durch Wände hindurch heraufbeschwor, das ihm über Meilen hinweg diesen ständigen Ruf zuschrie, der von ihm allein gehört wurde? Noch wagte sie nicht zu hoffen, war im Hintergrund stehengeblieben, paßte auf ihn auf in einem besorgniserfüllten Taumel, sah ihn immerzu den furchtbaren Sprung vollführen und widerstand doch dem Verlangen, hinzulaufen, aus Furcht, die Katastrophe zu beschleunigen, falls sie sich zeigte. Mein Gott, da stehen mit ihrer verwüsteten Leidenschaft, ihrer blutenden Mütterlichkeit, da stehen, alledem beiwohnen, ohne auch nur eine Bewegung wagen zu können, um ihn zurückzuhalten.
Sehr groß stand er da, rührte sich nicht, schaute in die Nacht.
Es war eine Winternacht mit dunstigem, rußschwarzem Himmel, die ein eisiger, von Westen wehender Wind sehr kalt machte. Paris mit seinen Lichtern war eingeschlafen, nur noch die Gaslaternen lebten, runde, flimmernde Flecke, die immer kleiner wurden und in der Ferne nur noch Fixsternstaub waren. Zunächst entrollten die Quais ihre Doppelreihe leuchtender Perlen, deren greller Schein die Fassaden im Vordergrund erhellte, links die Häuser am Quai du Louvre, rechts die Flügel des Institut de France, wirre Massen von Bauwerken, die sich dann in einer noch dichteren, mit fernen Funken besetzten Finsternis verloren. Zwischen diesen Bändern, die dahinflohen, so weit das Auge reichte, spannten die Brücken ihre Lichtergestänge, die immer dünner wurden, jedes aus einem Streifen gruppenweise angeordneten und gleichsam hängenden Flittern gemacht. Und dort in der Seine erstrahlte der nächtliche Glanz des lebendigen Wassers der Städte, jede Gaslaterne spiegelte ihre Flamme darin als einen Feuerkern, der in einen Kometenschweif auslief. Die nächsten verschwammen, setzten den Strom mit regelmäßigen und symmetrischen breiten Glutfächern in Brand; die weiter zurückliegenden Brücken waren nur noch kleine reglose Feuertupfen. Aber die großen umgluteten Schweife lebten, wurden immer unruhiger, je mehr sie sich schwarz und golden ausstreckten, in einem unausgesetzten Erschauern von Schuppen, bei dem man das unendliche Strömen des Wassers spürte. Auf der ganzen Seine brannten Lichter, als würde in ihrem Innern ein Fest von rätselhafter und tiefer Märchenpracht gefeiert, bei dem hinter den rotglühenden Scheiben des Stromes Walzer tanzende Paare vorüberzogen. Hoch über dieser Feuersbrunst, über den bestirnten Quais, lag am Sternenlosen Himmel rotes Gewölk, die heiße, phosphoreszierende Ausdünstung, die jede Nacht die Rauchkrone eines Vulkans auf den Schlaf der Stadt legte.
Der Wind blies scharf, und Christine zitterte vor Kälte, die Augen voller Tränen, fühlte, wie sich die Brücke unter ihr drehte, als werde sie mit hineingerissen in den Zusammenbruch des ganzen Horizonts. Hatte sich Claude nicht bewegt? Kletterte er nicht über das Geländer? Nein, alles war wieder reglos, sie sah ihn wieder in seiner eigensinnigen Starre, die Augen auf die Spitze der CitéInsel gerichtet, die er doch nicht sah.
Er war gekommen, weil sie ihn gerufen, und er sah sie nicht in der Tiefe der Finsternis. Er konnte nicht die Brücken unterscheiden, feine Balkengerippe, die sich schwarz von dem Glutgeflimmer des Wassers abhoben. Jenseits davon ertrank dann alles, die Cité Insel sank ins Nichts, er hätte nicht einmal die Stelle wiedergefunden, an der sie gewesen, hätten die verspäteten Droschken nicht zuweilen die PontNeuf entlang jene Funken sausen lassen, die noch über die erloschenen Kohlenstücke laufen. Eine rote Laterne
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