Das Wiegen der Seele (German Edition)
sich schon frühzeitig hier und da graue Strähnen eingeschlichen hatten. Mit seinen achtunddreißig Jahren war er trotz seiner ungesunden Lebensweise noch faltenlos und mit dem Dreitagbart und der sportlichen Figur durchaus ansehnlich. Bei einer eher durchschnittlichen Größe von einem Meter achtzig konnte er Konfektionsgröße fünfzig problemlos tragen, allerdings ließ die Sauberkeit seiner Bekleidung meist ein wenig zu w ünschen übrig.
Ordnung klang in seinen Ohren wie ein Fremdwort. Er machte einen großen Bogen um solche profanen Tätigkeiten wie Staubsaugen und Abwaschen. Bei seinen wenigen Besuchern entschuldigte er dies mit der Begründung, er habe eine Reinigungsmittelallergie.
Nach dem Abitur war er in den Polizeidienst eingetreten, obwohl er eigentlich Rechtsanwalt werden wollte. Warum er sich für den Polizeidienst entschied, konnte er nicht sagen. Und auch auf die Frage, wie er den Abschluss geschafft hatte, fehlte ihm bis heute die Antwort, denn er war zwar durchaus intelligent, aber er konnte sich Interessanteres vorstellen, als stur Gesetzestexte auswendig zu lernen. Vielleicht war das der Grund, warum er nicht Anwalt geworden war.
Hobbys hatte er keine, außer Pokern, Trinken und hin und wieder ein paar Gewichte stemmen. Joggen hätte er noch als Hobby bezeichnen können. – Schließlich musste man ja fit bleiben.
Nettgens Schreibtisch war ein ausrangiertes Holzmodell, das er den neuen, sterilen Kunststoffexemplaren vorzog. Neben Berichten, Fotos von Tatorten und unzähligen leeren Zigarettenschachteln stand ein Aschenbecher, der kurz vorm Überquellen war. Aber irgendwie schaffte Nettgen es immer wieder, ihn mit weiteren Stummeln vollzustopfen, ohne dass auch nur ein einziger herunterfiel. Er zündete sich eine Zigarette an und betätigte den Knopf seines CD-Radios, das unmittelbar neben dem Tisch auf dem breiten Fensterbrett stand. Blumentöpfe standen dort keine. Nettgen machte sich nichts aus Pflanzen, denn die müsste er ja pflegen, ähnlich wie die Frauen, und dafür fehlte ihm das Fingerspitzengefühl.
Nachdem er es sich auf seinem Lehnstuhl bequem gemacht hatte, griff er nach einem Blatt Papier, knüllte es zusammen und warf den Ball in Richtung Papierkorb. Er rollte fast um den ganzen Rand herum und fiel dann hinein – Treffer!
Nettgen hatte jetzt einen klaren Kopf und das Gefühl, seine Gedanken würden in eine bestimmte Richtung gehen. Ganz tief in seinem Inneren war er sich sicher, dass noch mehr passieren würde. Er holte tief Luft und stieß einen lauten, beunruhigten Seufzer aus. Er wollte gerade nach seiner Kaffeetasse greifen, in der sich noch ein Schluck abgestandener Kaffee vom Vortag befand, als Löffler sein Büro betrat.
„Hallo Ralf, alter Hühnerstecher“, begrüßte er Nettgen. „Hörst du noch immer diese s Jazz-Lala“, fragte er ironisch, betätigte gleichzeitig die Stop -Taste, sodass die Musik verstummte und setzte sich auf die Fensterbank.
„Dietmar, deine Familie tut mir leid“, entgegnete Nettgen leicht genervt. Dabei legte er seine Beine ausgestreckt auf den Schreibtisch. „Wie halten die das bloß so lange mit dir aus? Oder hast du ein Einzelzimmer?“
Löffler grinste.
„Willst Du einen Schluck Kaffee?“ Nettgen streckte Löffler seine Tasse entgegen, die rund um den Tassenrand mit getrockneten Kaffeeresten versehen war.
„Nein, danke, mir ist schon schlecht“, brummte Löffler nur und verdrehte die Augen. „Aber was anderes, ich habe die ersten Ermittlungsergebnisse.“
Wie von einer Hornisse gestochen sprang Nettgen auf und grinste erwartungsvoll wie ein Honigkuchenpferd.
„Sprich!“, forderte er Löffler ungeduldig auf.
„Also, Ralf. Wir haben weder Fußspuren noch Fingerabdrücke entdeckt. Die einzigen Abdrücke stammen vom Zeugen. Daher ist weiter unklar, wie der oder die Täter den Raum betreten haben. Das Türschloss wurde nicht aufgebrochen oder beschädigt. Der Zeuge hat zu Protokoll gegeben, dass nur er selbst und der Städtische Kulturverein Schlüssel für das gesamte Gelände haben. Niemand anders hatte Zugang zu dem Raum. Und wie üblich war auch gestern alles verschlossen.“
„Das sind ja wirklich umwerfende Ergebnisse“, griente Nettgen.
„Und wer ist dieser Zeuge und was hatte er dort zu suchen?“
„Ich bin ja noch nicht fertig!“, schnellte Löffler ein. „E in gewisser Marc Krums, Angestellter des Sicherheitsunternehmens, das mit der Bewachung des Geländes beauftragt ist. Der
Weitere Kostenlose Bücher