Das Wiegen der Seele (German Edition)
Verpflichtungen?“
Ihr Blick wanderte geradewegs in seine Augen. Sie musterte ihn, sah die Frage aber ziemlich gelassen.
„Nein, weder mein Mann, noch ich. Wir haben beide keine Schulden. Zumindest nicht dass ich wüsste. Das Haus ist längst abgetragen und Jack verdiente sehr gut“ , antwortete sie mit einem Anflug von Überheblichkeit.
Nettgen wollte im Moment keine weiteren Fragen stellen, doch es stand ihm jetzt eine Aufgabe bevor, die er noch mehr hasste als die Befragung.
„Ich habe im Moment keine weiteren Fragen an Sie, allerdings wäre da noch etwas ...“ , tastete er sich an die unangenehme Sache heran.
„Was noch?“
Nettgen beugte sich zu ihr hinüber . „Frau Crampton, ich muss S ie leider bitten, I hren Mann zu identifizieren. Ich kann mir durchaus vorstellen, wie schwer I hnen das fällt. Aber es muss sein. Wenn Sie möchten, vereinbaren wir morgen einen Termin, wenn es Ihnen etwas besser geht, und Sie kommen dann in die Gerichtsmedizin. Wir könnten allerdings auch ...“ Er blickte sie unsicher an.
„Was könnten wir?“, wollte Frau Crampton wissen.
„Nun, wenn es I hnen recht ist, fahren wir sofort in die Gerichtsmedizin, dann wäre der Teil erledigt und ich könnte Sie wieder nach Hause bringen.“
Was war nur in Nettgen gefahren? Eine Zeugin chauffieren ? Nettgen schob es auf die schwarzen Strümpfe und erhob sich. „Entschuldigen Sie, ich hatte es wohl etwas eilig mit meinen Ermittlungen.“ Er korrigierte sofort sein Angebot: „Lassen Sie sich ruhig noch einen Tag Zeit. Außerdem müssen Sie ja jemanden für die Kinder haben.“ Woher hatte er plötzlich so viel Einfühlungsvermögen? Er ging auf Frau Crampton zu und reichte ihr seine Karte. „Ich lasse Sie jetzt allein. Hier ist meine Nummer. Sie können mich jederzeit erreichen, wenn Sie mit mir reden wollen. Auf Wiedersehen und vielen Dank für Ihre Zeit, S ie haben uns sehr geholfen. Wir sehen uns dann in der Gerichtsmedizin.“
Sie schwieg. Mit Tränen in den Augen starrte sie ihn sekundenlang an. Dann erhob sie sich und sagte: „Nein, Kommissar, ist schon gut. Ich weiß, dass es sein muss, und ich möchte es hinter mich bringen. Die Kinder habe ich heute Mittag zu meiner Mutter gebracht, sie wohnt in Aachen. Dort bekommen sie von alledem hier nichts mit.“ Entschlossen wischte sie sich eine Träne von der Wange. „Bitte, nehmen Sie mich mit, ich möchte im Moment nicht selbst fahren.“
* * *
Fast eine halbe Stunde später erreichten Nettgen und Frau Crampton das Gebäude der Essener Gerichtsmedizin. Während der Fahrt hatten sie kein Wort gewechselt. Frau Crampton hatte während der gesamten Autofahrt gedankenversunken aus dem Beifahrerfenster gestarrt. Nettgen wagte nicht, sie anzusprechen.
Jetzt standen sie in einem langgezogenen Korridor und warteten auf Dr. Kirschberg, den Gerichtsmediziner. Von dem Korridor führten zahlreiche Türen in die verschiedenen Untersuchungsräume. Durch ein kleines Glasfenster konnte Frau Crampton einen Blick in den gegenüberliegenden Raum werfen.
Was sie sah, machte ihr Angst. In der Mitte des gekachelten Raumes stand ein Metalltisch, auf dem die verhüllte Gestalt eines menschlichen Körpers lag. Auf dem danebenstehenden Metallrollwagen lagen ein weißes Tuch und die Werkzeuge eines Gerichtsmediziners: Eine kleine elektrische Säge, mehrere Skalpelle in verschiedenen Größen, ein Bohrer, Brechwerkzeuge, Einweghandschuhe, Tupfer und andere Hilfsmittel. Der Gedanke, dass ihr Mann mit diesen Instrumenten untersucht und verstümmelt worden war, jagte Maria Crampton kalte Schauer über den Rücken und ihr wurde schlecht. Verstört wandte sie den Blick von dem Tisch ab.
Am Waschbecken auf der anderen Seite des Raumes stand ein kleiner, untersetzter Mann in einem weißen Kittel. Er schrubbte seine Hände mit Desinfektionsmittel, bevor er sie trocknete. Dann zog er einen Kamm aus seiner Kitteltasche und kämmte sich die langen Strähnen zurück. Dr. Kirschberg drehte sich um und kam auf die Tür zu.
Nettgen stellte ihn vor. „Frau Crampton, das ist Dr. Kirschberg, der Pathologe. “
„Angenehm“, begrüßte der Mediziner Frau Crampton und fügte hinzu: „Ich weiß, es ist schwer für S ie. Aber wir werden versuchen, es Ihnen so einfach wie möglich zu machen.“ Er geleitete Nettgen und Frau Crampton den Korridor entlang in einen von oben bis unten gekachelten kalten Raum, in dem zahlreiche Metallklappen in die Wand eingelassen waren. Er ging zu einer der Klappen
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