Das Wiegen der Seele (German Edition)
und zog eine Schublade heraus. Auf der Metallbahre lag ein abgedeckter Leichnam. Dr. Kirschberg blickte Nettgen an, dann Frau Crampton. „Frau Crampton. Ihr Mann wird nicht mehr so aussehen, wie S ie ihn in Erinnerung haben. Es könnte ein Schock für S ie sein. Sind S ie bereit ? “
Sie nickte nur. Ihr war jetzt schon speiübel. Sie wäre am liebsten aus dem Gebäude gerannt. Der Mediziner zog an einer Ecke eines weißen Tuches, hob es an und legte das Gesicht frei.
Frau Crampton hatte die Augen geschlossen und wollte sie einfach nicht öffnen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie sah Bilder ihres Mannes aus glücklichen Tagen vor sich, dachte an seine Heimkehr aus Ägypten und wie sehr er sich freute, die Familie in die Arme zu nehmen. Dann zählte sie bis drei, überlegte es sich anders und zählte weiter bis zehn. – Und endlich öffnete sie die Augen. Als sie in das Gesicht ihres Mannes blickte, schnappte sie nach Luft. Sie schaute auf verzerrte Gesichtszüge und leichenblasse Haut. Ihre Beine wurden weich wie Gummi und sie drohte, jeden Moment umzukippen. Ihr Magen drehte sich, ihr wurde so schlecht, dass sie den Blick abwenden musste und mit der Hand vor dem Mund zu einem nahestehenden Plastikeimer rannte, in den sie sich übergab. Die Beine zitterten, während sie vor dem Eimer kniete. Nettgen ging zu ihr, legte seine Hand auf ihre Schulter und sagte leise:
„Es ist vorbei, Frau Crampton . “
Es vergingen Minuten, bis sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Dann riss sie sich noch einmal zusammen, trat erneut vor ihren Mann, blickte nochmals in sein Gesicht und sagte mit zutiefst betroffener Stimme:
„Ja, es ist mein Mann. Es ist Jack . “
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verließ den Raum.
Nettgen verabschiedete sich von Dr. Kirschberg und folgte ihr auf den Korridor. Er legte gegen jede Gewohnheit seinen Arm um ihre Schulter und führte sie zum Parkplatz. Es folgte eine weitere schweigsame Autofahrt, auf der die Stille nur hin und wieder durch ein leises Schluchzen von Frau Crampton unterbrochen wurde.
Am Wohnsitz der Familie angelangt, parkte Nettgen vor der Hofeinfahrt. Frau Crampton schwieg und ihre Hände zitterten noch immer. Nettgen schaltete den Motor aus und ließ sich mit einem erschöpften Seufzer im Sitz zurücksinken. Seine Behauptung, er sei nur ein wenig müde, war eine Lüge. Aber was sollte er auch anderes sagen. Er machte ein besorgtes Gesicht, setzte dazu an, etwas zu sagen, blickte sie aber dann nur kurz an und schwieg. Er fasste noch einmal Mut.
„Ich danke I hnen, Frau Crampton. Sie haben mir sehr geholfen und es tut mir leid, dass ich die Identifizierung von I hnen verlangen musste. Falls I hnen noch etwas einfällt, rufen S ie mich bitte an.“ Sie schenkte ihm nur ein Lächeln, nickte und stieg aus dem Wagen. Er warf noch einen letzten Blick auf die endlos langen Beine, startete den Motor und fuhr los.
Kapitel 4
Löfflers Büro wurde von einem mächtigen Eichenschreibtisch beherrscht. Er war weder modern noch modisch antik, sondern einfach ein überaus großes, praktisches Möbelstück, das wie ein Dinosaurier unter einer Kugelleuchte thronte. Löffler war so ordentlich, dass das grelle Licht, das die Lampe auf die Arbeitsplatte warf, fast von einer unbedeckten Fläche reflektiert wurde. Bis auf ein Telefon, eine flache Schale für Kugelschreiber und ein Bilderrahmen mit dem Foto seiner Familie war er leer. Das Bild zeigte ihn, seine Ehefrau, die sechsjährige Tochter und Josy, die Hauskatze der Löfflers. Für Nettgen war diese Katze wie ein rotes Tuch. Immer, wenn er auf das Foto starrte, warf er ihr einen hasserfüllten Blick zu.
An der weißen Wand hinter dem Schreibtisch hing ein Kunstdruck-Kalender, der seit Februar nicht mehr abgerissen worden war und der so überhaupt nicht in diese spießige Umgebung passte. Er zeigte den nackten Körper einer Frau, die auf einem Sofa lag – künstlerisch dargestellt ... natürlich .
Nettgen fragte sich immer, wo Löffler seine Akten abzulegen pflegte, und ob er vielleicht erschlagen würde, wenn er die Tür zu einem seiner Aktenschränke öffnete, aber wahrscheinlich würde er nur wohlsortierte Ordner vorfinden. Jedenfalls würde das erklären, warum Löffler so oft nachsitzen musste, wie Nettgen das nannte, wenn er abends nicht mitkam in die Kneipe ums Eck, um den Tag bei einem kühlen Bier ausklingen zu lassen.
Jetzt lag der Duft von frischem Kaffee in der Luft und nur das Rotieren des
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