Das Wiegen der Seele (German Edition)
Portion Schlaf nachzuholen. Auf seinem Rücken lag eine schwere Last, die schwerste in seiner Karriere als Kommissar. Nie zuvor war er so sehr im Dunkeln getappt und die Furcht, wieder nicht die entscheidende Spur zu finden, lastete wie ein dumpfer, lähmender Druck auf seiner Seele. Außerdem wollte er Maria beweisen, dass er ein guter Bulle war und sie sich auf ihn verlassen konnte. Er wusste sowieso nicht genau, was heute Abend passiert war, konnte nicht nachvollziehen, was eine Frau wie sie an einem Typen wie ihm fand. Er hoffte nur, dass es sich für sie nicht um eine flüchtige Ablenkung von ihren Sorgen handelte.
Auch das konnte er nicht wirklich begreifen: War er doch sonst immer derjenige, der mit den Frauen gespielt hatte und einem flüchtigen Abenteuer nicht abgeneigt war ... Diesmal war es anders: Zum ersten Mal konnte er die Frauen verstehen, die sich mehr erhofft hatten. Diesmal hatte es wohl ihn erwischt.
Er warf einen letzten Blick hinaus auf die Straße. Dann nahm er sich einen starken Kaffee und legte sich schlafen.
Am nächsten Morgen im Büro setze er sich sofort vor seinen PC. Er hoffte, im Internet Informationen über den Vorgang der Mumifizierung zu bekommen und blätterte sich Seite für Seite durch die ägyptische Geschichte. Zwischendurch musste er, trotz der paar Stunden Schlaf, die er sich gegönnt hatte, immer wieder gegen die unbarmherzige Müdigkeit ankämpfen. Ganz in der Nähe erklangen die Glocken eines Kirchturmes. Nettgen zählte neun Schläge, als er sich ausloggte . . Er nahm sich seinen Schmierzettel zur Hand, auf dem er sich alle Details der Einbalsamierung notiert hatte, die er finden konnte. Dann lehnte er sich in seinen Sessel zurück.
Nettgen hatte herausgefunden, dass der Vorgang der Mumifizierung einer präzisen Logik folgte. Der Tod galt im alten Ägypten nicht als das Ende, sondern als Übergang in eine andere Form der Existenz. Das gestaltete sich jedoch nicht ganz ungefährlich, denn nach dem Tode würden die verschiedenen Elemente der menschlichen Natur eigene Wege gehen. Die Lebensenergie, die Seele, der Name, der Körper und das Herz konnten also in unterschiedliche Richtungen unterwegs sein. Erst dann, wenn es gelang, sie alle wieder zu vereinen, war ein neues Leben möglich.
Vor diesem Hintergrund wurde die Technik der Mumifizierung entwickelt. Der Körper wurde zunächst ausgeweidet und dann zur Austrocknung für siebzig Tage in Natronsalz gelegt. Dann wusch und parfümierte man ihn, bis er schließlich in Leinenbinden gewickelt wurde. Die Eingeweide bewahrte man separat auf.
Nettgen konnte nicht so ganz nachvollziehen, warum jemand in einer anderen Existenzform umgebracht und ihm dann wieder ein neues Leben ermöglicht werden sollte. Irgendwie kam ihm das alles ziemlich schizophren vor. Wenn die alten Ägypter schon so eine Angst hatten, dass sich jeder Körperteil nach dem Tod selbständig machte, hätte man das Ganze doch wohl besser zusammengelassen, als auch noch alles – schön einzeln verpackt – irgendwo zu deponieren. Wäre ja schon schwierig genug gewesen, den Namen und die Seele wieder einzusammeln, da hätte man den Körper doch ganz lassen können. Na ja. Andere Länder, andere Sitten ...
Er dachte weiter und kam zu dem Schluss, dass wohl auch Crampton eine richtige Mumie werden sollte. Das Herz hatte man ihm ja schon entnommen ... Vielleicht waren die Täter bei ihrer Arbeit gestört worden? – Aber von wem?
Vielleicht sollte es bei Crampton aber auch ein wirkliches Ende sein – ohne Herz hätte er wohl nie wieder eine Chance, zusammenzufinden und ein neues Leben zu beginnen.
Nettgen war so in seine Gedanken vertieft, dass er weder das Eintreten seines Kollegen Löffler, noch das Klingeln seines Diensttelefons wahrnahm.
„Willst du nicht rangehen? “, fragte Löffler und lachte.
Nettgen erschrak und drehte sich ruckartig zu ihm um. Beim dritten Klingeln nahm er ab, meldete sich aber nicht. Er sagte kein Wort.
„Ralf? Ralf, bist du es?“ , erklang eine Frauenstimme. Nettgen identifizierte die Stimme als die Marias.
„Äh, ja. Hallo Maria. Äh, schon wach? “
„Ralf, ich hab etwas entdeckt. Es wird dich interessieren, doch ich fühle mich nicht wohl bei der Sache . “ Ihre Stimme war voller Furcht. Besorgt erhob sich Nettgen vom Stuhl.
„Maria, was hast du entdeckt? “
„Nicht am Telefon“, antwortete sie „Du musst es dir selbst anschauen . “
„Okay, bleib ganz ruhig. Ich mache mich gleich auf den Weg zu dir
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