Das Wiegen der Seele (German Edition)

ehrlich gesagt – möchte ich jetzt nicht darüber sprechen. Du wolltest  mir etwas zeigen ? “
    Von einer Sekunde auf die andere veränderten sich ihre Gesichtszüge. Wo sich vorher noch Sorge um Nettgen gespiegelt hatte, stand jetzt Furcht geschrieben. Langsam schritt sie zu einem Gestell, das an der Wand stand und einer Sitzbank ähnelte. Nettgen folgte ihr und beobachtete, wie sie hinter die Lehne griff und einen Lederumschlag hervorholte.
    „Hier, das habe ich letzte Nacht zufällig entdeckt, Ralf. Ich war zornig darüber, dass du gehen musstest. So habe ich vor lauter Wut eine Weinflasche an die Wand geschmissen. Ich hatte vor, mich zu betrinken, nach allem, was passiert war. Die Scherben flogen bis hinter das Ritualbett. Dann bemerkte ich dieses Buch. Es klebte am Rückenteil fest . “
    „Was ist das denn für ein Buch ? “, fragte Nettgen und konnte sich schlecht entscheiden, ob er seine Blicke auf das Buch, das Ritualbett oder sonst wohin richten sollte. Seine Augen wanderten hin und her, während er immer nachdenklicher wirkte.
    „Und sagtest du Ritualbett ? “
    „Ja“, antwortete sie. „Jack brachte das Ritualbett aus Ägypten mit. Das Buch, das du in der Hand hältst, ist sein Tagebuch, das die Ausgrabungen und Entdeckungen in kurzen Absätzen festhält . “
    Nettgens Hände wurden eiskalt, sein Rachen trocken. Er öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort heraus. Dann hob er seine Hand, als wolle er sich bekreuzigen, hielt aber mitten in der Bewegung inne und tat so, als kratze er sich an der Nase. Er schluckte schwer und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Dann rieb er sich die Augen und starrte Maria an, als erwarte er, dass sie sich zum Inhalt des Buches äußerte.
    „Und ? “ , fragte er. „Was steht drin?“
    „Die letzten Berichte sind schrecklich und machen mir Angst“ , sagte sie bedrückt und setzte sich auf einen nahestehenden Stuhl. Nettgen nahm das Buch an sich und betrachtete es. In diesem Moment begannen seine Hände zu zittern. Im selben Augenblick spürte er etwas, das eine Sekunde zuvor nicht dagewesen war. Irgendetwas war geschehen. Nichts Sichtbares, nichts Fühlbares, sondern etwas wie eine Veränderung der Dinge an sich, als wäre die ganze Welt um ein winziges Stückchen zur Seite gerutscht und hätte jetzt einen anderen Platz auf der Skala der Schöpfung eingenommen. Es war wie ein nicht völlig gelungener Schnitt in einem Film. Der Wirklichkeit war der Bruchteil einer Sekunde abhanden gekommen. Zu wenig, um es wirklich zu bemerken, aber auch zu viel, um es zu übersehen. Und die Veränderung hielt an.  Alles schien normal zu sein. Von Zeit zu Zeit grollte ein tiefer Donner. Das Deckenlicht war intensiver geworden. Alle Schatten waren dunkler, als sie eigentlich sein durften. Und zwischen ihnen und dem Licht, in einem Bereich der Wirklichkeit, den es eigentlich gar nicht geben konnte, schien sich etwas zu bewegen. Die Luft hatte plötzlich einen eigenartigen Gesteinsgeschmack und es roch nach Verwesung, aber nicht penetrant. Nettgen glaubte, die Luft zwischen den Fingern fühlen zu können. Er versuchte, ruhig zu bleiben und schloss für einen Moment die Augen, um sie dann wieder zu öffnen. – Die Panik, die sich seiner für kurze Zeit zu bemächtigen gedroht hatte, kroch wieder in ihren Käfig am Grunde seiner Seele zurück.
    Dann öffnete er vorsichtig den Druckknopf des Lederumschlags und schlug das Buch auf der ersten Seite auf. Dabei blickte er nervös um sich herum. Er las:
     
    6. März 20 11
    Wir sind heute in Kairo angekommen. Zusammen mit unserem Auftraggeber haben wir die letzten Vorbereitungen für die Expedition getroffen. Wir fahren ins Tal der Könige. Endlich! Schon morgen soll es losgehen, obwohl wir weniger Hilfskräfte und Arbeiter haben als geplant. Ich werde heute im Hotel Winter Palace hier in Kairo übernachten und mich morgen in aller Frühe zum Sammelplatz begeben.
     
    8. März 20 11
    Die Hilfskräfte und Basketboys haben heute den ersten Schutt weggetragen. Mit dem Vorarbeiter Hasan haben wir eine gute und einwandfreie Kontrolle der Grabungsarbeiten. Wir suchen an vielen Stellen und bauen unsere Zelte um die Grubenlöcher. Heute ist auch die restliche Grabungsausrüstung in Kisten eingetroffen und weitere Arbeiter haben sich uns angeschlossen.
     
    19. März 20 11
    Heute war die Sonne unbarmherzig heiß. Nach meinen Berechnungen werden uns die Ausgrabungen noch viel Zeit und Mühe kosten, bis wir den Eingang gefunden und freigelegt