Das Wiegen der Seele (German Edition)

haben.
     
    Nettgen blätterte und überschlug einige Seiten. Dann suchte er sich wieder einen Tagesbericht heraus und nahm sich zwischendurch immer etwas Zeit, über den Inhalt nachzudenken. Nach und nach verwandelte sich sein Interesse in schieres Entsetzen.
     
    23. Juli 20 11
    Endlich. Wir sind auf eine Stufe gestoßen. Ich hoffe, es ist kein Grubengrab, sondern die erste Stufe, die uns in die Kammer führt. Die Entdeckung der Stufe bringt neue Kraft und Motivation ins Team. Ich hoffe nur, es ist das Grab, das wir suchen und kein benutztes, vollständig ausgeraubtes oder gar ein Beamtengrab.
     
    3. September 20 11
    Wir haben heute die vierzehnte und letzte Stufe freilegen können. Der Eingang ist zu sehen. Wir haben den Eingang gefunden! Die Türen sind riesig und mit einem Seil gesichert. Es ist durch Bronzegriffe gezogen und mit Lehm versiegelt. Es sind nicht die Siegel der königlichen Totenstadt, also handelt es sich um eine einfache Person. Die Tür beinhaltet eine Inschrift: Anubis wacht. Der Führer der Toten wacht. Der, der auf der Anhöhe thront, wacht.
    Ich habe heute ein dutzend Arbeiter verloren, die vor dem Anblick der Inschrift davonliefen. Ich habe ein Loch in die Tür getrieben. Es befindet sich dahinter ein mit Geröll ausgeführter Gang.
     
    5. September 20 11
    Das Tor ist geöffnet. Riesige Felsbrocken und Geröll blockieren den Gang, der dahinter liegt. Es ist finster und kalt. Der Weg durch den Gang erschwert sich. Heute sind vier Hilfskräfte spurlos verschwunden. Ich schätze, die Angst vertrieb sie.
     
    28. September 20 11
    Wir haben uns nach rund fünfundzwanzig Metern bis vor eine weitere Tür vorgearbeitet. Sie ist ebenfalls gesichert. Die Inschrift auf der Tür lautet: Der Durchgang wird bewacht. Der Führer der Toten wacht.
    Und weiter steht dort: Osiris wacht. Der Totengott, der Herr des Jenseits, wacht.
    Zwei Arbeiter wurden am Morgen von einem herunterfallenden Felsbrocken verletzt. Das haben die anderen als böses Omen aufgenommen. Das Totenbuch muss ganz in der Nähe sein.
     
    30. September 20 11
    Wir sind durch. Wir befinden uns in einer Kammer. Vermutlich eine Vorkammer. Rechts vom Eingang eine weitere Tür. Die Kammer ist leer. Die Wände sind mit Symbolen und Inschriften verziert. Es steht geschrieben: Anubis wacht. Die Existenz wacht.
    Irgendetwas verbirgt sich hinter der verschlossenen Tür. Ich kann mir nicht vorstellen, was, aber es muss noch einen weiteren Eingang zu der Kammer geben. Es raschelt und kratzt und macht sich bemerkbar. Die Arbeiter geraten immer mehr in Panik. Die Existenz wacht ...
     
    1. November 20 11
    Ich beabsichtige, die Expedition abzubrechen. Sieben weitere Arbeiter sind verschwunden. Es herrscht Panik im Lager. Das Rascheln und Kratzen wird intensiver. Morgen erwarte ich die Ankunft von Yassir Sebdarem . Die Entscheidung liegt bei ihm. Auch ich will hier weg. Es wird unheimlich und die Schakale sind uns weiterhin auf den Fersen. Sie lassen uns nicht aus den Augen. Heute Nacht brannten zwei Zelte nieder und wichtiges Werkzeug ist nicht mehr auffindbar.
     
    Nettgen war so fassungslos, dass es ihm anzusehen war. Er spürte, wie Maria ihn beobachtete. Ihr Gesicht war ganz starr, auf ihren feingeschnittenen Zügen lag ein ängstlicher Ausdruck. Nettgen überlegte einen Augenblick, dann wandte er sich zu ihr.
    „Geht es dir gut? “, fragte er.
    „Ja“, antwortete sie , „du bist ja bei mir . “
    Nettgen nickte mit geschlossenen Augen und blickte erneut ins Tagebuch.
     
    2. November 20 11
    Yassir setzt mich gewaltig unter Druck. Wir können die Expedition nicht abbrechen. Wir graben weiter, tiefer in die Kammer. Ich bin sonst ruiniert. Vielleicht stellt sich morgen heraus, was sich hinter der Tür verbirgt. Ich weiß es nicht. Ich habe Angst.
     
    4. November 20 11
    Gestern war der schlimmste Tag meines Lebens. Wir öffneten die Tür. Alles schien ruhig, keine Geräusche. Beim Öffnen strömten tausende von Käfern wie eine Flut heraus. Sie fielen über mehrere Arbeiter her. Wir brannten die Gänge und die Kammer aus. Eine Inschrift, die wir an den Wänden entdeckten, lautete: Die Welt der Finsternis ist in der Verfassung des Todes. Den Wächtern der Kammer entgeht kein Eindringling, der die Stätte entweiht. Alle Augen sehen sich dem Feind gegenüber, der da geht mumifiziert in die Unterwelt. Die Finsternis ist ein Grab, der Körper des Sehenden erstarrt. Geschaffen in der Unterwelt, wird jener mit Anubis Schriften der Finsternis folgen, der