Das Wing 4 Syndrom
Augenblick lang benommen, hätte er fast das Gleichgewicht verloren.
„Aufpassen, Schutzmann! Hier sind wir!“
Sie standen auf hartem Kies, so nahe am Abgrund, daß Keth unwillkürlich zurücktrat. Hunderte von Metern in der Tiefe umfloß der große Fluß den Sockel des Berges, und in den hellgrünen Fluten trieb hellblaues Eis. Keth drehte sich mit Brong herum und sah den Baum. Er wuchs aus dem kahlen, harten Boden. Der glattborkige Stamm war von leuchtendem Grün und viele Meter dick, wo er über die Wurzeln hinausquoll. Seine nach vorn zulaufende Äste waren von hellerem Grün, das ins Orangerote verblaßte und an den Spitzen der nach unten hängenden Zweige die dunkle Farbe von Blut annahm.
Die Leleyos bewegten sich rings um den Baum. Ein paar Dutzend Erwachsene, hochgewachsen und schlank, von goldbrauner Haut und ebensolchem Haar. Alle nackt. Unter ihnen schlanke Kinder. Eine graziöse Frau, die einen Säugling an der Brust hielt. Ein einzelner alter Gelbbart.
Sie sangen, marschierten, tanzten hin und wieder. Ein Paar wirbelte aus dem Kreis heraus, um die anderen anzuführen. Als sie zurückkehrten, folgte ihnen eine einzelne Gestalt. Plötzlich von ungläubiger Hoffnung angestachelt, suchte Keth den Kreis nach Nera Nyin ab, aber sie war nicht da.
„Unsere Verwandten!“ Brongs leise hinausgehauchten Worte klangen wie ein Gebet. „Komm!“
Keth hielt sich zurück. Seine kurz aufgeflackerte Hoffnung war bereits wieder erstorben. Nackte Barbaren, die einen Baum ansangen!
Er konnte nicht lachen – er war zu weit gekommen, hatte zu viel Leid erduldet, um lachen zu können. Aber der Baum war zu fremdartig, seine Anbetung zu sinnlos. Die Leleyos, deren Leben, deren Wege völlig unbekannt waren, schienen ebenso kalt und fremd wie die Humanoiden zu sein.
40
Synergie Die gemeinsame Wirkung mehrerer Ursachen, die zu einem Effekt führen, der aufgrund einer einzelnen Ursache unmöglich ist (grobe Übersetzung des Leleyobegriffes Feyolili).
Wieder zupfte Brong an ihm.
„Schutzmann, sie warten!“
Die Tänzer hatten haltgemacht und drehten sich zu ihnen herum. Ihre Stimmen verstummten und erhoben sich dann wieder, sangen jetzt ein anderes Lied. Der alte Mann mit dem goldenen Bart schritt ihnen entgegen, rief ihnen etwas zu, anscheinend einen Gruß. Brong lief ihm entgegen, sank auf die Knie, als sie einander erreichten. Der bärtige Mann winkte ihm aufzustehen und nahm ihn in die Arme. Dann drehten sie sich beide um und lächelten Keth zu.
„Ilo Auli.“ Brongs Stimme klang atemlos und unsicher. „Dein Großvater.“
Mit einem seltsamen Gefühl, in das sich immer noch etwas Angst mischte, ging Keth auf ihn zu und nahm seine muskulöse Hand.
„Willkommen, Feyosan.“ Seine weithin hallenden Worte hätten ebensogut von einem Bewohner Kais kommen können. „Wir haben nach euch Ausschau gehalten.“ Er winkte sie zu dem Baum hinüber. „Willkommen beim Feyo – aber das hier braucht ihr nicht.“
Er blickte mit gerunzelter Stirn auf die schmutzigen Fetzen ihrer Unterwäsche. Mit einem freudigen Lächeln zog Brong das Kleidungsstück herunter und warf es von der Klippe. Keth, der sich dabei nicht ganz wohl fühlte, folgte seinem Beispiel und wartete, den anderen den Rücken zuwendend und zitternd im kalten Wind.
„Komm!“ rief Brong. „Wir sind jetzt Leleyos.“
Ilo Auli führte sie über den festgetretenen Boden auf den Baum zu. Ein Dutzend Tänzer kamen ihnen entgegen, um sie zu geleiten. Sie sangen jetzt eine andere Melodie. Als sie sich dem mächtigen Stamm näherten, bildete sich wieder der ganze Kreis um sie. Keth wartete. Er kam sich nackt und verwirrt vor.
„Entspanne dich!“ Brongs kalte Metallhand legte sich ihm auf die Schulter. „Wir sind nach Hause gekommen.“
Er blickte zu dem grünen Stamm hinüber und schauderte vor Kälte. Sein ganzer Körper schmerzte von den Abschürfungen, die er sich im Fluß zugezogen hatte. Die Blasen an seinen Fersen brannten. Unsicher schluckend, hatte er das Gefühl, ein Kratzen im Hals zu verspüren und fragte sich, ob die Blutfäule-Infektion schon begonnen hatte.
„Das Blut des Baumes.“
Ilo Auli sang die Worte hinaus, griff nach einem herunterhängenden karminfarbenen Zweig und knickte eine winzige schwarze Knospe von seinem Ende ab. Scharlachrote Tropfen fielen herunter. Er fing sie in der Hand auf, bis ein kleines Mädchen mit einem winzigen Becher aus gehämmertem Gold gerannt kam, um sie aufzufangen.
„Das Leben der Leleyos!“
Weitere Kostenlose Bücher