Das Winterhaus
Tod gefroren.
Joe brauchte zwei Tage, um per Anhalter nach North Yorkshire zu kommen. Die letzten zwölf Kilometer von der Hauptstraße bis Hawksden mußte er tippeln. Es war dunkel, und er hatte keine Taschenlampe, aber der Himmel war klar, und der Vollmond beleuchtete die schmale, gewundene, ungeteerte Straße. Er hörte die Kirchenuhr Mitternacht schlagen, als er das Dorf erreichte.
Ihm war klar, während er mit dem eisernen Riegel des Tors kämpfte, daß er nicht mehr viel länger hätte durchhalten können. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letztemal eine normale Mahlzeit gegessen oder nachts ruhig durchgeschlafen hatte. Alles wirkte ein wenig irreal. Die steilen Kopfsteinstraßen des Dorfes, die so theaterhaft im Mondlicht glänzten; das massige schwarze Fabrikgebäude; die imposante Kulisse der dunklen Hügel – das alles schien zwischen wirklich und unwirklich hin- und herzugleiten. Er merkte, daß er dort am Tor seines Elternhauses eingenickt war, während seine Finger immer noch den Riegel umschlossen. Er wußte nicht, wie lange er gedöst hatte – ein paar Minuten, vermutlich, aber er war nicht sicher. Er ging den Weg hinauf, die Hände tief in seine Jackentaschen geschoben, den Kragen hochgeschlagen. Er zitterte heftig, aber ob es an der Kälte lag oder an einer geheimen Furcht, darüber wollte er nicht nachdenken. Er stieg die Treppe zur Haustür hinauf, lehnte sich an den Pfosten und zog an der Klingelschnur.
Wieder nickte er ein, als er, den Kopf an den kalten Stein gebettet, dort an der Tür stand. Als unter dem Klirren von Ketten und Riegeln die Tür geöffnet wurde, war er beinahe überrascht. Eine Lichtflut überschwemmte ihn, dann sah er die Haushälterin, ein großes Umschlagtuch um ihr voluminöses Nachthemd. Er beobachtete, wie sich der Ausdruck ihrer Augen veränderte, als sie ihn musterte. Auf die Verärgerung darüber, aus dem Bett gerissen worden zu sein, auf den Widerwillen angesichts seiner Erscheinung folgte endlich, als sie ihn erkannte, fassungslose Verwunderung. Das zornige »Verschwinden Sie hier« gefror ihr auf der Zunge, und sie flüsterte unsicher: »Master Joe?«
Er nickte. Er sagte: »Ich habe dich geweckt, nicht wahr, Annie?«, aber obwohl sie zurücktrat, um ihn einzulassen, war er in diesem Moment nicht fähig, sich zu bewegen. Seine Glieder gehorchten ihm nicht. Er sagte: »So verdammt kalt« und hörte, wie sie automatisch mißbilligend mit der Zunge schnalzte über das Wort »verdammt«.
Dann sagte sein Vater: »Nun mach schon, daß du reinkommst, Bursche, und mach die Tür endlich zu.«
Irgendwie schaffte er es, ins Haus zu schlurfen. Das Licht in der Eingangshalle – elektrisches Licht, John Elliots ganzer Stolz – blendete ihn, so daß er den Ausdruck im Gesicht seines Vaters nicht recht erkennen konnte. Eine Mischung aus Erschütterung und Mißbilligung – und noch etwas anderem, das rasch versteckt wurde. »Dir ist wohl das Geld ausgegangen, was, mein Sohn?«
Der Ton war vertraut, ein Ton sarkastischen Triumphs. Joe hatte nicht die Kraft, sich zu verteidigen. Und auch nicht den Willen. Er ging an seinem Vater und der Haushälterin vorüber und setzte sich, den Kopf in die Hände gestützt, auf die Treppe. Er hatte nicht geahnt, daß die Erinnerung an seine Mutter so überwältigend wirken würde. Daß er auch jetzt noch erwarten würde, sie diese Treppe herunterkommen zu sehen, von ihr umarmt und geküßt zu werden. Daß er sich selbst jetzt noch so deutlich ihres Parfüms, ihrer Sanftheit, ihres leicht französischen Akzents erinnern würde.
Sein Vater sah ihn schweigend an. Und als Joe endlich aufblickte, sah er, wie stark er gealtert war. John Elliot war immer klein und stämmig gewesen, grobknochig, das Gegenteil von Joe; jetzt jedoch zog Grau sich durch das helle Haar, und tiefe Kerben furchten das kantige Gesicht. Er war ein alter Mann geworden. Joe hörte ihn flüstern: »Mein Gott, wie du aussiehst« und dann zur Haushälterin sagen: »Na los, Annie, machen Sie einen Teller Suppe warm. Stehen Sie nicht rum wie ein Ölgötze.«
Joe aß in der Küche. Es überraschte ihn, wie wenig er zu sich nehmen konnte. Eine halbe Schale, dann fühlte er sich voll und aufgebläht. Schweigend stellte sein Vater ihm ein Glas Whisky hin. »Trink das, Junge, und dann gehst du am besten zu Bett. Du könntest zwar ein Bad gebrauchen, aber das hat Zeit bis morgen.«
Sein Vater ging mit ihm nach oben. Ein- oder zweimal schien es Joe, als wollte er ihm seinen
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