Das Winterhaus
recht zu geben. In den drei Wochen vor Weihnachten brachte er es lediglich auf einen einzigen Tag Arbeit; er verkaufte Konversationslexika an unterdrückte Hausfrauen, die die Dinger weder haben wollten noch bezahlen konnten. Als er sich dabei ertappte, daß er ihrer Beurteilung, die Bücher seien nichts als Geldverschwendung, zustimmte, war ihm klar, daß er als Vertreter unbrauchbar war. Er warf seine Musterexemplare in die nächste Mülltonne und klopfte an keine Tür mehr.
Der Hunger war das Schlimmste. Er ernährte sich von Brot, Margarine und Tee. Das hielt ihn am Leben, aber das war auch alles. Er hoffte, er würde sich daran gewöhnen, aber das geschah nicht. Er dachte unablässig ans Essen; wenn er schlief, träumte er von Essen. Manchmal stand er Minuten vor einer Bäckerei und starrte die Berge von Brötchen, Kuchen und Pasteten an, so gebannt, als sähe er einen aufregenden Film. Die Düfte nach gekochtem Schinken, Roastbeef oder Fleischpasteten, die aus Pubs und Restaurants herauswehten, trieben ihn fast in den Wahnsinn.
Er fühlte sich außerdem furchtbar gelangweilt und furchtbar einsam. Die Langeweile überraschte ihn, er hatte sie nie vorher kennengelernt. Menschen wie Francis, die Intelligenz, aber wenig Ausdauer besaßen, neigten dazu, sich schnell zu langweilen, aber doch nicht Menschen wie Joe. Doch obwohl er seine Bücher aus der Wohnung in Hackney mitgenommen hatte, konnte er von Hunger und Kälte geplagt nicht lesen. Und obwohl sein Zimmer voll von Dingen war, die nicht richtig funktionierten, erschien es ihm sinnlos, sie zu reparieren. Nachts schlief er schlecht, nickte aber tagsüber, in den endlosen Stunden ohne Beschäftigung, leicht ein. Er vermißte andere Menschen, aber er brauchte sich nur anzusehen, um zu wissen, daß er sich nicht in Gesellschaft wagen konnte. Er hatte die Gewohnheit schicklicher Konversation verloren, und er sah völlig verdreckt aus. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt ein Bad genommen hatte. Im Wohnheim gab es kein fließendes Wasser; er hätte die Gemeinschaftswanne ausleihen und sie mit Wasser aus dem Hahn im Hof füllen können, aber er konnte sich nicht dazu aufraffen. Wenn er an Robin dachte, was er häufig tat, schien es ihm, als lebe sie in einer anderen Welt, zu der er keinen Zugang mehr hatte. Er hätte sie gern besucht, aber er wußte, daß er sich damit nur selbst Schmerz zufügen würde.
Eines Tages waren alle Geschäfte geschlossen, und eine seltsame Stille hing in den Straßen. Zunächst verstand er es nicht, aber dann fiel ihm ein, daß es der erste Weihnachtsfeiertag war. Er marschierte kilometerweit in eines der besseren Viertel Londons und sah zu, wie die Leute nach dem Morgengottesdienst aus der Kirche kamen. Eine Frau trat zu ihm und drückte ihm etwas in die Hand, und als er hinunterblickte, sah er, daß sie ihm sechs Pence gegeben hatte. Hin- und hergerissen zwischen Wut und Gelächter starrte er die Münze an. Er stellte sich Francis' Belustigung vor, wenn er ihm die Geschichte erzählte, aber dann fiel ihm ein, daß seine lange Freundschaft mit Francis vorbei war, von ihm selbst mit einer kurzen gemurmelten Bemerkung absichtlich zerstört. Er ging nach Hause und verbrachte den Rest des Tages im Bett, konnte nicht einmal seine sechs Pence ausgeben, weil die Geschäfte geschlossen hatten. Am Abend überfiel ihn ein furchtbarer Heißhunger, und er aß alles, was er an Eßbarem in seinem Schrank finden konnte. Dann, als er bemerkte, daß seine Finger vor Kälte abgestorben waren, zertrümmerte er den Stuhl und den Tisch in seinem Zimmer, warf die Teile in den Kamin, zündete sie an und fühlte sich zum erstenmal seit Wochen gewärmt.
Ein paar Tage später zog er aus dem Wohnheim aus, das heißt, er schlich sich hinaus, als der Wirt gerade einmal nicht aufpaßte. Er hatte die drei Shilling und sechs Pence für die Miete nicht mehr. Zwei Nächte verbrachte er auf Parkbänken, aber die Temperaturen fielen stark, und ihm war klar, daß er auf diese Weise keine Woche überleben würde. Er versuchte es in einer Penne, wo man für acht Pence eine Schlafgelegenheit bekam. Die Nacht dort war die schlimmste seines Lebens. Es war zwar trocken und dank den vielen Menschen im Raum auch einigermaßen warm, aber die Aggressivität und die Hoffnungslosigkeit der Männer um ihn herum deprimierten ihn tief. Wegen eines Kamms, dem die Hälfte der Zähne fehlte, gab es eine Prügelei; entsetzt sah Joe den Männern zu, die sich, beide undefinierbaren
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