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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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sich wieder regte. Sie fuhren am Marienplatz samt kuppelgekröntem Dom und imposantem Rathaus vorüber. Die Trambahn war voll, Joe stand an einen SS-Mann mit der Brust voller Hakenkreuze und Abzeichen gequetscht, und Robin saß unbequem eingezwängt zwischen zwei behäbigen älteren Frauen. Rolf Lehmann hatte ihm auf dem Stadtplan gezeigt, wo sich die Wohnung Claire Lindlars befand. Joe hatte zweimal an die Münchner Adresse geschrieben, die Großtante Marie-Ange ihm gegeben hatte, hatte jedoch keine Antwort erhalten.
    In einer Vorstadt stiegen sie schließlich aus. Mietshäuser standen zu beiden Seiten der Straße. Joe blickte zu dem vierstöckigen Häuserblock hinauf.
    »Joe?« Robin tippte ihn an. »Was ist?«
    Er schüttelte den Kopf, unfähig, Worte zu finden. Sie drückte flüchtig seine Hand und lächelte. »Es wird schon schiefgehen, Joe. Komm, gehen wir.« Sie ging auf das Haus zu. Er folgte ihr.
    Der Hausmeister saß nicht in seiner Loge. Das Treppenhaus und die Korridore waren hoch und schlecht beleuchtet, die Läden vor den Fenstern geschlossen gegen das Sonnenlicht. Staubkörnchen tanzten in den Lichtstrahlen, die durch die Ritzen der Läden einfielen. Robin ging voraus. Joe fühlte sich benommen von ihrer Nähe. Er fragte sich, ob es Sinn hatte zu hoffen. Oder ob ihr Herz immer noch, wie sie gesagt hatte, »in Ketten lag«.
    »Joe?« sagte sie wieder. Sie war vor einer grüngestrichenen Tür stehengeblieben.
    Er nahm sich zusammen. Konzentriere dich, Elliot, ermahnte er sich. Hör auf, dich wie ein Narr zu benehmen. Er klopfte und wartete. Es dauerte endlos, bis sich etwas rührte. Dann hörten sie endlich Schritte und Stimmen, das Klirren einer Kette, als die Tür entsichert wurde. Sie wurde geöffnet, und er blickte verwirrt in das Gesicht der Frau, die ihm gegenüberstand.
    »Entschuldigen Sie, Madame, aber ich suche eine gewisse Claire Lindlar. Mir wurde gesagt, daß sie hier wohnt.«
    Er hatte französisch gesprochen. Die Frau starrte ihn verständnislos und mißtrauisch an. Sie mußte Mitte Vierzig sein, das geflochtene aschblonde Haar war von Grau durchzogen, das Gesicht wirkte verhärmt, ihr Körper breit und aufgedunsen.
    Er hörte, wie Robin deutsch zu sprechen begann. Ein kurzes Gespräch entwickelte sich, von dem Joe nichts verstand. Ein halbes Dutzend Kinder drängten sich an der Tür und starrten Joe und Robin neugierig an. Die älteren Jungen trugen die Uniform der Hitlerjugend, das Mädchen mit dem Säugling auf dem Arm hatte Rock und weiße Bluse des BdM an.
    Robin beugte sich hinunter und bot dem kleinsten Kind, einem blonden Mädchen, ein Bonbon an. Die Frau trat in die Wohnung zurück. Nach einigen Minuten kam sie wieder und hielt ihnen die geöffnete Hand entgegen, um ihnen den Orden zu zeigen, den sie mitgebracht hatte.
    Robin sagte lächelnd irgend etwas, dann nahm sie Joe beim Ärmel und zog ihn mit sich zur Treppe. Sie sprach erst, als sie wieder auf der Straße waren.
    »Da wohnt sie nicht, Joe. Die Frau hatte nie von deiner Tante Claire gehört. Ich habe ihr extra beide Namen genannt – Brancour und Lindlar –, aber sie kannte keinen.«
    Er schob seine Hände in die Taschen und ging schnell den Bürgersteig hinunter. Der Tag schien sich verdüstert zu haben. Zu Fuß jetzt, bemerkte er überall die bedrückenden Zeugnisse eines totalitären Regimes. Die vielen Menschen in Uniform; die martialischen Märsche der Blechkapellen; die Lautsprecher, die an den Straßenecken angebracht waren; die Radioapparate in den Restaurants; die schweigenden, aufmerksamen Menschen, die sich um die Lautsprecher scharten, die den Radiobekanntmachungen applaudierten; die Reihen Uniformierter, die durch die Straßen marschierten; das begeisterte »Heil Hitler!«, mit dem die fahnentragenden Soldaten gegrüßt wurden. Nachdem er einige feindselige Blicke aufgefangen hatte, war ihm klar, daß es gefährlich war, sich dem Nazigruß nicht anzuschließen. Sie flohen also in irgendein Geschäft und sahen sich Waren an, die sie überhaupt nicht kaufen wollten, um abzuwarten, bis die marschierenden Kolonnen vorüber waren. Das Brüllen der Lautsprecher, das Getöse von Trommeln und Blech widerte ihn an. Aber vielleicht war es gar nicht das, was ihn anwiderte, sondern etwas, das tiefer lag. Ein zunehmendes Bewußtsein für das Böse, das, hier in München verwurzelt, wie ein bösartiges eiterndes Geschwür ganz Deutschland überzog und dann vielleicht ganz Europa überziehen würde. Er konnte sich gut

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