Das Winterhaus
trat ans Fenster. »Ich habe eine ganze Menge Dinge getan, aber nichts sehr lange. Eine Zeitlang habe ich in einem Büro gearbeitet, aber das war furchtbar langweilig, und dann habe ich ein Buch geschrieben, aber seitdem habe ich nur – na ja, ich habe dies und das getan.«
Käthe zündete sich eine Zigarette an. »Aber nichts, woran Ihr Herz hängt.«
»Nein, nichts, woran mein Herz hängt«, wiederholte sie traurig.
Sie sah zum Fenster hinaus. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten die stille Straße in rosiges Licht. In diesem Moment wirkte die Stadt friedlich und heiter.
»Was macht denn Ihr Vater beruflich?«
»Mein Vater ist Lehrer. Und mein Bruder auch. Alle Summerhayes sind sehr musikalisch und künstlerisch begabt, nur ich nicht.«
In Käthes Stimme lag ein leicht spottender Ton, als sie fragte: »Und Sie sind so schrecklich unbegabt, Robin? Es gibt nichts, worin Sie gut sind?«
Sie dachte an die Klinik. An die vielen Stunden, die sie dort gearbeitet hatte – viele davon unbezahlt. Sie dachte daran, daß sie sich in der Klinik niemals langweilte, niemals wünschte, woanders zu sein. Sie sagte: »Ich möchte gern etwas Nützliches tun. Etwas, das etwas verändert. Ich habe daran gedacht –« Sie brach ab.
»Sie haben daran gedacht –?«
»Ich habe daran gedacht, Medizin zu studieren.« In einem sprudelnden Schwall waren die Worte heraus. Noch nie hatte sie zu irgend jemandem von diesem großen, beängstigenden Ziel gesprochen. »Ich habe nur leider etwas lange gewartet, und die Universitäten nehmen sowieso kaum Frauen, da …« Sie sprach nicht weiter.
Käthe stand auf und schenkte ihnen beiden noch einmal Wein ein. Dann setzte sie sich neben Robin aufs Sofa.
»Hören Sie mir zu, Robin. Die meisten unserer Freunde haben Deutschland bereits verlassen – das ist möglich, wenn man einen akademischen Beruf hat und das nötige Geld. Rolf und ich könnten auch auswandern. Sie sehen ja, wie wir leben, jedes Wort müssen wir auf die Goldwaage legen und dürfen niemals zeigen, wie wir wirklich denken. Und meine Arbeit fehlt mir schrecklich. Aber ich hoffe, daß sich alles ändern wird.« Käthe drückte ihre Faust auf ihr Herz. »Ich muß daran glauben – hier! –, daß sich alles ändern wird. Robin, wenn Sie wirklich Ärztin werden wollen, dann packen Sie es an. Ich fände es traurig, wenn Sie sich von Furcht oder Entschlußlosigkeit davon abhalten lassen würden.« Sie lächelte und hob ihr Glas. »Tun Sie es für mich, Robin. Als kleinen Ausgleich.«
Eine Woche später reisten sie wieder ab. Joe hatte inzwischen herausbekommen, daß Paul Lindlar nur drei Jahre nach seiner Heirat mit Claire Brancourt gestorben war und Claire nach Frankreich zurückgekehrt war.
Mehr wußte er nicht. Er hatte keine Adresse, keine Spur. An einem kühlen Herbstmorgen stiegen sie in München in den Zug und blickten nicht zurück.
Der Herbst in den Fens war naß, kalt und windig. Wieder zog eine Familie, ihr bißchen Wäsche und ihre schäbigen Möbel auf einen Karren geladen, in die Stadt. Bald würde ihr verlassener Garten in Wind und Wetter verwildern. Schindeln fielen vom Dach des Pfarrhauses von Thorpe Fen, und der Wind schleuderte Bohnenstangen quer durch den Garten:
»Ich werde Adam fragen, ob er mal ein, zwei Tage bei uns aushelfen kann, Daddy«, sagte Helen beim Pudding nach dem Mittagessen. »Eddie Shelton ist inzwischen wirklich zu klapprig, um aufs Dach zu klettern.«
Ihr Vater antwortete nicht gleich, sondern nahm sich erst von der Süßspeise. Dann sagte er: »Ich hoffe, du vergißt nie, daß du eine Klasse über Adam Hayhoe stehst, Helen, und daß das auch immer so bleiben wird.«
Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Wie meinst du das, Daddy?«
Er nahm sich noch einen Löffel vom Pudding. Ein kleines Lächeln der Langmut spielte um seinen Mund.
»Ich will damit sagen, daß man euch beide in letzter Zeit viel zusammen gesehen hat. Die Leute reden, Helen. Und es gibt nichts Unerfreulicheres als eine ungleiche Verbindung.«
Seine blaugrauen vorstehenden Augen fixierten sie, während er sich die vollen Lippen mit der Serviette tupfte. Sie hatte wie immer das Gefühl, er sähe bis in ihre Seele hinein. Die Freundschaft, die sich in den Sommermonaten zwischen ihr und Adam entwickelt hatte, wurde unter dem Blick ihres Vaters zu etwas Schmutzigem, dessen man sich schämen mußte. Sie erinnerte sich ihrer Sehnsucht, Adam zu berühren, ihre Hand in seine kräftige, braungebrannte zu legen. Sie erinnerte
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