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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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verstecken. Ich bin sicher, sie hat zu Hause ein Foto des Führers auf ihrem Nachttisch stehen.« Robin konnte kaum glauben, was sie da hörte. »Sie haben Angst vor Lotte?«
    Käthe Lehmann drehte sich langsam nach ihr um. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Trotz und Resignation.
    »Ja«, sagte sie. »Ja, ich denke, ich habe Angst.« Sie drückte ihre Zigarette in einem Aschenbecher aus. »Im Augenblick können wir unbehelligt leben, Fräulein Summerhayes. Rolf kann weiterhin seiner Arbeit nachgehen, auch wenn ich das nicht kann, und wenn wir schön vorsichtig sind, können wir die Bücher lesen, die wir lesen wollen, und können die Musik hören, die wir schätzen. Ein paar Worte von Lotte an die falsche Adresse könnten das alles ändern.«
    »Warum entlassen Sie sie dann nicht?«
    Käthe ließ heißes Wasser in den Spülstein laufen. Sie antwortete geduldig: »Weil sie uns dann ganz sicher anschwärzen würde, Fräulein Summerhayes. Ihre Arbeit hier ist gut bezahlt und angenehm.« Robin tauchte die Hände ins heiße Wasser und begann die Teller zu spülen.
    »Aber das ist doch unerträglich – in Ihrem eigenen Haus …«
    »So schlimm ist es auch wieder nicht. Immerhin mußte ich mir noch nicht die Haare wachsen lassen, um mir eine Gretchenfrisur machen zu können.« Der Schatten eines Lächelns spielte um ihren Mund. »Sie schrubben den Teller ja mit einer Energie, als wollten Sie das ganze Muster entfernen, Fräulein Summerhayes.«
    »Bitte, sagen Sie Robin.« Sie nahm den Teller aus dem Wasser und reichte ihn Käthe zum abtrocknen. »Sie sagten vorhin, daß Sie nicht mehr arbeiten können. Was haben Sie denn für einen Beruf?«
    »Ich bin Medizinerin. Wie mein Mann. Wir haben zur gleichen Zeit Examen gemacht und waren am selben Krankenhaus. Ich liebe meinen Beruf.«
    »Sie haben wohl aufgehört, als Dieter kam?«
    Käthe Lehmann schüttelte den Kopf. »O nein, Robin. Ich hatte ein Kindermädchen für Dieter und Karl. Ich habe erst letztes Jahr aufgehört, als hier die Nazis an die Macht kamen. Sämtliche Ärztinnen an den Krankenhäusern wurden entlassen, verstehen Sie. Kinder, Küche, Kirche – zu mehr sind wir nicht geeignet.«
    Joe, der die Nacht unruhig geschlafen hatte, erwachte am nächsten Morgen früh. Vom Fenster des Gästezimmers konnte er auf die breite baumbestandene Straße hinuntersehen. Die ersten Sonnenstrahlen lagen auf den Linden, und der Himmel war blaßblau. Unter den Menschen, die zur Arbeit eilten, sah er Männer auf dem Asphalt knien. Im ersten Moment der Verwirrung konnte er sich nicht vorstellen, was sie da taten. Dann sah er, daß sie die Straße säuberten, sie mit Bürsten und Seife schrubbten, um – Joe kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können – die Parolen wegzuwaschen, die in der Nacht jemand auf den Asphalt geschrieben hatte. Aufseher in braunen Hemden überwachten die Arbeit der Männer. Das Bild wirkte um so absurder, als rundherum Menschen zu den Trambahnen rannten oder mit Aktentaschen unter dem Arm zu ihren Arbeitsplätzen eilten, ohne die Gefangenen, die auf der Straße knieten, auch nur mit einem Blick zu beachten. Als wäre es etwas Alltägliches, daß da ein halbes Dutzend Männer eine Münchner Hauptverkehrsstraße schrubbte. Als wären diese Männer unsichtbar.
    Auch nachdem er sich angekleidet und gefrühstückt hatte, wurde er das Bild dieser unsichtbaren Männer nicht los. Draußen auf der Straße, die jetzt leer war, fragte sich Joe einen verrückten Moment lang, ob er das Ganze vielleicht nur geträumt hatte. Das Nebeneinander beschaulicher Normalität und unterschwelliger Bedrohlichkeit blieb auch, als er mit Robin in der Trambahn quer durch die Stadt fuhr. Es machte ihn glücklich, ganz allein mit ihr im Sonnenschein eine fremde Stadt zu erkunden, und der Wunsch, sie bei der Hand zu nehmen, sie zu küssen, war beinahe überwältigend. Er hatte ihr über ihren plötzlichen Entschluß, mit ihm nach Deutschland zu reisen, keinerlei Fragen gestellt, aber er hatte den starken Verdacht, daß Francis damit zu tun hatte. Auf der langen Reise war sie ungewöhnlich still gewesen, und sie hatte Francis in den letzten Tagen nicht ein einziges Mal erwähnt. Hier, allein mit ihr in Sonne und Wärme, erinnerte sich Joe der Nacht, die sie zusammen in seiner Wohnung verbracht hatten – ihres warmen, weichen Körpers, des Dufts ihres Haars an seinem Gesicht –, und ließ es zu, daß die Hoffnung, die er so lange gewaltsam unterdrückt hatte,

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