Das Winterhaus
vorstellen, wie es soweit kommen konnte. Man paßte sich in kleinen Dingen an – dem Gruß, der allgemeinen Aufmerksamkeit, die den volltönenden Reden gezollt wurde –, weil das ja nur Äußerlichkeiten waren, die zu bekämpfen sich nicht lohnte. Aber dann breitete sich die heimtückische Infektion in andere Lebensbereiche aus, drang in das Privatleben ein, nahm einen mit Haut und Haaren in Besitz, so daß man schließlich in allem mitzog – in der Kleidung, in dem, worüber man sprach, in der Kindererziehung und zuletzt auch im Denken.
Robin zog ihn am Ärmel. »Joe?« Sie lief an seiner Seite durch das Gewühl auf dem Bürgersteig. »Können wir mal eine Pause machen? Ich muß was essen.«
Er blieb so abrupt stehen, daß ein paar Leute schimpfend mit ihm zusammenstießen. »Natürlich. Entschuldige.« Er sah sich um. »Nirgends ein Restaurant. Aber da drüben ist ein Park. Wir könnten uns ein paar Brote kaufen.« Er griff in seine Tasche und zog eine Handvoll Münzen heraus.
Sie kauften belegte Brote und zwei Flaschen Bier und suchten sich ein stilles Plätzchen unter einer Buche. Er legte Robin seine Jacke ins Gras. Als sie sich gesetzt hatte, sah sie ihn an und sagte: »Armer Joe. Du bist bestimmt furchtbar enttäuscht.«
Er schnitt eine Grimasse. »Ich dachte immer, Familie ist unwichtig«, sagte er. »Ich dachte, ich wäre froh, sie alle los zu sein. Aber jetzt …«
Sie reichte ihm die Bierflaschen, und er machte sie auf. Er sah das Mitleid in ihren Augen und versuchte es ihr zu erklären. »Aber das ist es eigentlich nicht«, sagte er. »Es ist diese Stadt. Empfindest du es nicht auch so?«
Sie schauderte ein wenig und blickte sich um.
»Es gibt hier so was wie zwei Schichten – oben der freundliche Glanz und gleich darunter das Bedrohliche.« Robin trank einen Schluck Bier. »Es schimmert überall durch. Sieh doch nur mal uns an, Joe. Wir getrauen uns nicht mal, laut zu sprechen.«
Es war wahr. Sie sprachen gedämpft, obwohl sie ganz allein in der kleinen schattigen Mulde saßen.
»Sogar in den Häusern«, fügte sie hinzu. »Die Lehmanns – sie können nie das sagen, was sie wirklich denken. Sie müssen die ganze Zeit Theater spielen. Das ist doch furchtbar.«
Das Licht, das durch die Blätter der Bäume fiel, sprenkelte ihr Gesicht und ihr Haar. Joe dachte, daß auch er seit langem Theater spielte. Wie lange würde er es noch schaffen, den Schein aufrechtzuerhalten? Er begann sich für seine Falschheit zu verachten. Er wußte, daß er offen sprechen mußte.
»Abscheulich, ja«, sagte er. »Robin –«
»Francis hat einmal gesagt, daß er Heuchelei von allem am meisten verachtet. Das eine sagen und das andere tun. Ich weiß, daß er nicht vollkommen ist, Joe, aber er ist immer ehrlich. Er ist nie falsch .«
Er sah die Tränen in ihren Augen, und das Fünkchen Hoffnung, das sich geregt hatte, erlosch. Sie zwinkerte und wandte sich ab.
»Robin.«
»Ich will nicht darüber sprechen.« Ihre Stimme hatte etwas Atemloses. »Es wird schon werden.«
Das, dachte er, könnte ihr Motto sein, seines und Robins und vielleicht auch Francis' – es wird schon werden. Wenn sie es nur oft genug sagten, würde es vielleicht wahr werden. Nur hörte er in letzter Zeit oft den Unterton der Verzweiflung in den Worten.
Er suchte das Thema zu wechseln, und der Orden fiel ihm ein, den die Frau ihnen gezeigt hatte.
»Sie war offensichtlich sehr stolz darauf. Gehörte er ihrem Mann?« Robin schüttelte den Kopf. Sie hatte sich wieder gefaßt, ihre Augen waren trocken. »Das war ihr Orden. Sie hat neun Kinder, Joe, und dafür hat sie das Mutterkreuz bekommen. Hitler selbst hat es ihr überreicht.«
Sie aßen alle zusammen zu Abend: Käthe und Rolf Lehmann, Joe und Robin. Wieder spürte Robin die Entspannung, sobald das Mädchen die Wohnung verlassen hatte. Rolf machte eine Flasche Wein auf; Joe setzte sich ans Klavier und spielte. Später ging Rolf, der Nachtschicht hatte, ins Krankenhaus, und Joe zog sich Müdigkeit vorschützend in sein Zimmer zurück. Käthes Blick folgte ihm, als er hinausging, dann sah sie Robin an.
»Sie sind nur Freunde, Sie und Joe?«
Robin nickte. »Nur Freunde.«
»Ich glaube, er hat Sie sehr gern.«
»Wir kennen uns seit Ewigkeiten.« Sie runzelte die Stirn, als sie zurückrechnete. »Fast sechs Jahre.«
»Er hat mir erzählt, daß er Fotograf ist. Und Sie, Robin – was tun Sie?«
»Im Moment eigentlich gar nichts.« Rastlos, unzufrieden mit sich selbst, stand sie auf und
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