Das Winterhaus
doch sah er mit beängstigender Klarheit, daß ihm sein Leben völlig zu entgleiten drohte.
Von den letzten Wochen hatte er kaum etwas in Erinnerung. Es hatte da einen ziemlich unangenehmen kleinen Zwischenfall gegeben – zwei Schläger in einer dunklen Gasse, die etwas von Spielschulden gemurmelt hatten, schrecklich banal –, und er war gezwungen gewesen, sich von der goldenen Uhr zu trennen, die einmal seinem Vater gehört hatte. Er erinnerte sich, daß Theo ihm mit vagen Versprechungen einer Anstellung beim BBC den Mund wäßrig gemacht hatte. Und er erinnerte sich an Evelyn und war angeekelt von sich, wenn er daran dachte, was er mit ihr getrieben hatte.
Er ging zu Fuß zu dem kleinen Atelier in Soho, wo Joe arbeitete. Draußen vor der Tür stand ein Straßenmusikant und sang. Francis gab ihm das Kleingeld, das er noch in der Tasche hatte. Als er die Galerie betrat, sah er, daß weder Joe noch Robin da waren. Er legte seine Maskerade ab und sah sich die Fotos an.
Mosleys Schergen, die draußen vor dem Olympia auf irgendeinen armen Kerl einschlugen. Polizei und Demonstranten in – Francis kniff die Augen zusammen und erkannte die Place de la Concorde – Paris. SA-Leute mit deutlich sichtbaren Hakenkreuzen auf ihren Armbinden, die einen Mann, der zusammengekrümmt auf der Straße lag, mit Fußtritten bearbeiteten. Es bestand eine deprimierende Ähnlichkeit unter den Aufnahmen. Francis ging weiter zum nächsten Block. »München«, lautete der Titel. Diese Bilder waren anders – auf den ersten Blick zeigten sie normalen Alltag, aber die finsteren Schatten wurden sichtbar, wenn man genauer hinsah und mitdachte. Eine Straßenszene, bei der Francis genau hinsehen mußte, um die Reihe der Braunhemden zu erkennen, die sich unter Hausfrauen und Schulkinder mischten. Ein junges Mädchen mit einem runden, wie geschrubbt wirkenden Gesicht, das von blonden Zöpfen umrahmt war. Sie hatte einen Ausdruck in den Augen, bei dem es Francis kalt überlief. Am seltsamsten und beunruhigendsten jedoch war die Aufnahme von den Männern, die auf Knien auf der Straße lagen und den Asphalt putzten. Rund um sie herum eilten die Menschen zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen. Keiner von ihnen verschwendete einen Blick an die gekrümmten Gestalten auf der Straße. »Stark, der Junge«, murmelte Francis vor sich hin, und wäre Joe in diesem Moment dagewesen, er hätte die Vergangenheit vergessen, wäre zu ihm gegangen, hätte ihm einen Klaps auf den Rücken gegeben und ihm gratuliert.
Aber Joe war nicht da. Francis verließ die Galerie und ging wieder auf die Straße hinaus und sah den funkelnden Sonnenschein und die flanierenden Menschen mit anderen Augen.
13
Robin wartete in einem Café in der Oxford Street auf Francis. Sie war um sechs gekommen; sie wollten ins Kino und dann bei Guy und Charis essen. Wieder sah sie durch das Fenster hinaus den Bürgersteig entlang. Nirgends eine Spur von Francis; nur Mädchen in Sommerkleidern und Geschäftsleute in leichten Anzügen, die zur U-Bahn eilten.
Die Kellnerin fixierte sie mit verdrießlichem Blick. Sie bestellte einen Tee und sah auf die Uhr. Viertel vor sieben. Das Kino fing um halb acht an. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen, aber sie hätte nichts essen können. Sie nahm ihren Terminkalender aus der Tasche und prüfte Datum und Zeit. Die Menschenmenge auf der Straße begann sich zu lichten, doch die Schlange vor dem Kino gegenüber zog sich weit den Bürgersteig hinunter. Die Frauen in der Schlange trugen kleine Hüte und ärmellose Kleider. Die Männer hatten Cordhosen an und Hemden, die am Kragen offenstanden. Die Hitze hatte sich bis in den Abend gehalten und machte London stickig und schwül. Eine unnatürliche Stimmung furchtsamer Erwartung zog sich durch den Sommer 1935. Als warteten sie alle auf das Losbrechen des Sturms.
Da glaubte sie plötzlich, ihn zu sehen: Ein hellhaariger junger Mann in weißer Hose und offenem Hemd kam aus dem Untergrundbahnhof. Er hatte Francis' schwingenden, selbstbewußten Gang, doch sie erkannte beinahe sofort, daß es ein Fremder war. Sie wandte sich vom Fenster ab und trank von ihrem Tee. Wenn sie nicht nach ihm Ausschau hielt, würde er kommen. Das kleine Café im Pseudo-Wiener-Stil mit Plüsch und Pleureusen war voll. Stimmengewirr schallte durch den Raum. Ein Mann setzte sich Robin gegenüber. Beinahe hätte sie gesagt, tut mir leid, der Platz ist besetzt, aber sie lächelte nur höflich. Zwanzig nach sieben. Die Schlange vor dem
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