Das Winterhaus
Arm von ihrer Schulter glitt, wandte sie sich ihm zu und berührte mit ihrem Mund flüchtig den seinen.
Manchmal spürte Francis, daß ihm auch das letzte bißchen mühsam bewahrter Kontrolle zu entgleiten drohte; daß die Intelligenz und die scharfe Wahrnehmung, die ihn befähigt hatten, Menschen wie Theo Harcourt und Evelyn Lake mit Abstand zu sehen, in den Alkohol- und Nikotinnebeln durchzechter Nächte zu versinken drohten. Er wußte, daß sie ihm ihren elitären Kreis der Reichen und Schönen nur öffneten, weil er sie zum Lachen brachte, weil er waghalsige Dinge tat, zu denen ihnen der Mut fehlte. Manchmal kam er sich vor wie ein Zirkuspferd, das für ein Stück Zucker in Form einer lukrativen Anstellung oder einer vorteilhaften Freundschaft die tollsten Kapriolen zu schlagen bereit war. Und er machte seine Kunststücke für sie zum Teil deshalb, weil er, wie er sich selbst eingestand, immer schon gern Publikum gehabt hatte; aber er vollführte sie auch, weil seine finanzielle Situation inzwischen nicht mehr nur prekär war, sondern schlicht verzweifelt. Selbst sein monatlicher Wechsel konnte sein Konto nicht mehr ins Plus bringen.
Weihnachten verbrachte er in Long Ferry mit Vivien und Denzil. Die Ehe war bereits zerrüttet. Viviens Blicke schweiften zu hübschen jungen Männern, und Long Ferry, das wußte Francis, war ein Faß ohne Boden, das selbst ein noch so großes Vermögen verschlingen konnte. Dennoch raffte er sich (mit Hilfe einer Flasche Scotch, die er aus dem Salon mitgehen ließ) dazu auf, Denzil um ein Darlehen zu bitten. Er mußte es.
Denzil war schneidend, vernichtend. Aber selbst da konnte Francis es der Selbsterniedrigung noch nicht genug sein lassen; er fragte nach Arbeit in Kenia oder wie sonst das heiße Land hieß, in dem Denzil seine Farm hatte. »Ich glaube nicht, Francis«, sagte Denzil träge. »Hast du dich in letzter Zeit einmal im Spiegel gesehen?« Wieder in seinem Zimmer, trank Francis den restlichen Scotch und sah dann in den Spiegel. Er mußte zugeben, daß er verdammt heruntergekommen aussah. Den Nachmittag verbrachte er damit, in der Küche nach ein paar besonders großen Kakerlaken zu suchen, die er seinem Stiefvater ins Bett legte, ehe er nach London abreiste.
Zu Neujahr fuhren er und Robin in die Cotswolds. Tagsüber wanderten sie, nachts schliefen sie in Jugendherbergen. Zum hundertstenmal wurde ihm bewußt, daß er, wenn er mit Robin zusammen war, keine Sehnsucht nach irgend etwas oder irgend jemand anderem hatte. Sein Gesundheitszustand besserte sich, er hustete weniger, und er trank vierzehn Tage lang nichts Stärkeres als Tee. Er lieh sich etwas Geld von Robin, bezahlte seine dringendsten Schulden und nahm sich vor, Theo und Evelyn und der ganzen Bande in Zukunft aus dem Weg zu gehen. Theo war im Ausland, das war also einfach, und Evelyn war keine Frau, die einem hinterherlief. Zwei Monate lang hielt er sich nach der Rückkehr nach London an seinen Vorsatz. Er fand eine Anstellung als Privatlehrer bei einem Jungen, der sich vom rheumatischen Fieber erholte, und bezahlte weitere Schulden. Aber dann begann alles schiefzulaufen.
Er und Robin aßen eines Abends in ihrem Lieblingsrestaurant, als sie ihm erzählte, daß sie vorhatte, Medizin zu studieren. Stundenlang setzte sie ihm auseinander, wie sie sich die Studiengebühren zusammensparen wollte und daß sie Abendkurse besuchen würde, um ihre Kenntnisse in Chemie und Physik aufzufrischen. Francis hörte ihr zu wie vor den Kopf geschlagen. Er wußte, was sie ihm damit sagen wollte, auch wenn sie es nicht direkt aussprach. Daß sie ihn verlassen würde, daß er nur eine Phase in ihrem Leben gewesen war, etwas Vorübergehendes, das sie nun hinter sich lassen würde. Bis zu diesem Moment war ihm nie klar gewesen, wie abhängig er mit der Zeit von ihr geworden war. Er sah seine Zuneigung zu ihr plötzlich als etwas Gefährliches, das ihn nur äußerst verletzlich machte. Sie trennten sich ganz freundschaftlich, aber Francis war sich seines schwelenden Zorns bewußt.
Am folgenden Abend mußte er zu einer Sitzung des Vorstands der Labour Party seines Bezirks. Nicht imstande, das nüchtern über sich ergehen zu lassen, kippte er vorher einige Drinks. Man wollte die Kandidaten für die bevorstehenden Bezirkswahlen bestimmen, und eigentlich hätte Francis sich von seiner besten Seite zeigen müssen. Gelangweilt und wütend hörte er sich hölzerne Reden über Belanglosigkeiten an. »Da draußen kann jeden Moment ein Krieg
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