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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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zu haben. Der Blick aus dem Fenster – die Bürgersteige, die Fahrbahn, die Linde, die gerade die ersten Blätter bekam –, alles war anders geworden, schien in ein anderes Licht getaucht. Alles wirkte schärfer, klarer umrissen, durchscheinend. Ihr Zimmer, das sie so gut zu kennen geglaubt hatte, war fremd geworden; sie musterte jeden Gegenstand, die Stühle, den Tisch, die Stehlampe, und empfand sie alle als fremd.
    Wenn ich nicht zu dieser Versammlung gegangen wäre, hätte ich dich nie kennengelernt.
    Und Francis auch nicht.
    Aber nicht Francis war ihr in Erinnerung geblieben; wenn sie zurückgedacht hatte, hatte sie immer nur Joe gesehen, der viel zu spät gekommen war und sich mit brummigem Gesicht auf den Platz gesetzt hatte, den sie ihm aufgehoben hatten. Sie hatte immer nur Joe gesehen, wie er sich gebückt hatte, um das Mittagsbrot und das Kleingeld aufzuheben, die aus ihrer Tasche gefallen waren. Und wenn sie an den Weg nach Hackney gedacht hatte, an das provisorische Abendessen mit Kaviar und Keksen, hatte sie auch immer nur Joe gesehen.
    In all den Jahren war Joe immer dagewesen. Feste mit Joe, Abende in Long Ferry mit Joe. Das entsetzliche Abendessen im Restaurant mit Clodie und Francis. Sie erinnerte sich, wie gekränkt und verärgert sie darüber gewesen war, daß Joe sie für eine oberflächliche, seichte Person gehalten hatte. Die Reise nach Frankreich, die Unruhen vor dem Arbeitsamt in Hackney, ihre panische Angst um ihn. Später, als sie krank gewesen war, hatte sie nur nach Joe verlangt, und er war gekommen und hatte sie nach Hause gebracht.
    Sie erinnerte sich, wie sie nach Mosleys Kundgebung im Olympia in seinem Haus auf der Treppe gesessen und auf ihn gewartet hatte; wie entsetzt sie gewesen war, als sie gesehen hatte, wie man ihn zugerichtet hatte. Sie hatte immer Joe geliebt, aber von Francis behext hatte sie ihre Gefühle für Mittelmaß gehalten, nicht wert, Liebe genannt zu werden.
    O Joe, dachte sie. Lieber Joe.
    Es war nicht etwa so, daß Francis unwichtig gewesen war, aber sein Bild schien verblaßt zu sein zu einer verschwommenen Erinnerung, die sie nicht mehr greifen konnte. Wenn sie versuchte, sich Francis vorzustellen, konnte sie sich seiner kaum erinnern. Blondes Haar, graue Augen, gerade Nase, sagte sie sich, und doch war es, als hätte sie Einzelteile verschiedener Puzzles vor sich, die nicht ineinanderpaßten. Joe hingegen – Joe war ganz aus einem Stück: stark, loyal und zuverlässig.
    Sie sah ihn an, und er lächelte, aber sie merkte, daß sie ihm nicht in die Augen sehen konnte. Sie nahm die Teller und trug sie weg. Die Reste warf sie in den Mülleimer. Er fragte sie, wie es in der Klinik gewesen sei. Ihre Antworten waren einsilbig und ungeschickt. Sie wünschte, er würde bleiben, und sie wünschte, er würde gehen. Sein Bleiben wünschte sie, weil mit ihm zusammen alles – ein Abendessen, ein Kinobesuch, ein Spaziergang – etwas Besonderes wurde. Sein Gehen wünschte sie, weil sie Zeit zum Nachdenken brauchte.
    Als er nach dem Abspülen seine Jacke nahm und einen Spaziergang im Park vorschlug, schüttelte sie den Kopf und sagte, sie müsse noch Briefe schreiben. Allein, setzte sie sich auf ihr Bett, die Arme um die hochgezogenen Beine geschlungen, das Kinn auf den Knien. Sie wußte nicht, was er von ihr dachte. Sie wußte, daß er ihr Freund war, aber sie hatte keine Ahnung, ob sie ihm mehr bedeutete. Als sie die letzten Jahre an sich vorüberziehen ließ, schwankte sie zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Manchmal hatte er sich verhalten, als liebte er sie, aber wenn es so war, warum hatte er dann nie etwas gesagt? Sie erinnerte sich mit erschreckender Klarheit, wie sie im Winterhaus gestanden und Joe erklärt hatte, wie sehr sie Francis liebte. Wenn Joe sie je geliebt hatte, dann mußten diese Worte seine Liebe zerstört haben.
    Sie begann ihn verstohlen zu beobachten, nach Zeichen Ausschau zu halten.
    Hoffnung erwachte und starb in ewigem, ermüdendem Kreislauf. Ein Brief von ihm, unter der Tür durchgeschoben, und sie bekam Herzklopfen. Am Schluß des Briefs die Worte: »Alles Liebe, Joe«, und sie war beschwingt, sicher. Doch dann sah sie ihn, und ihre Sicherheit schwand unter seiner freundlichen Zurückhaltung. Mit ihm zusammenzusein war eine Qual, ein fortwährendes Wechselbad der Gefühle. Angespannt und erschöpft, begann sie ihn zu meiden. Sie verlor ihre Unbefangenheit im Umgang mit ihm und sah, daß er ihr Unbehagen spürte. Die schlimmsten Übel ihrer

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