Das Winterhaus
bersten, und wenn sie Gelegenheit hatte, einmal ein Nickerchen einzulegen, konnte sie gar nicht schlafen. Zornig drückte sie die Zitronen aus, dann nahm sie den Kessel vom Herd und goß heißes Wasser auf den Honig. Ihre Hände zitterten ein wenig, und sie vergoß etwas Wasser.
Doch als sie sich im Vorübergehen in dem kleinen Spiegel im Flur der Randalls sah, blieb sie einen Moment erschrocken stehen. Sie erkannte ihr Spiegelbild kaum wieder. Die bleiche, pergamentartige Haut, die tiefen Schatten um die Augen, die langen Kerben, die sich von der Nase zu den Mundwinkeln zogen, das schmuddelige blonde Haar. Sie sah alt aus. Alt und krank und vielleicht ein wenig irre. Helen stellte den Becher mit der heißen Zitrone aufs Fensterbrett. Sie knöpfte ihre Strickjacke auf und knöpfte sie noch einmal richtig. Dann kämmte sie sich das Haar und flocht es zu einem Zopf.
Michael war eingeschlafen. Helen setzte sich an sein Bett und betrachtete ihn. Seine Wimpern warfen feine, filigrane Schatten auf seine Wangen, und als sie sich hinunterbeugte und seine Lider küßte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Etwas, das Dr. Lemon gesagt hatte, fiel ihr ein. »Die Mutter macht mir mehr Sorgen. Ein Anflug von Tb vielleicht.« Wenn Dr. Lemon Susan Randall in ein Sanatorium schickte, dann würde sie, Helen, Michael mit nach Hause nehmen können. Das Gesicht an die Gitterstäbe des Kinderbetts gedrückt, schlief Helen ein und wurde erst vom Schrei einer Eule geweckt, die wie ein großer grauer Geist vom Dach der Scheune herabstieß.
Joe hatte den Ärmelkanal mit einem Häufchen anderer Rekruten überquert: Männern in Schirmmützen und Regenmänteln, die für das unfreundliche Herbstwetter zu dünn waren. Im Gegensatz zu seinen Gefährten, die mit Drei-Tages-Ausweisen reisten, die ihnen von der kommunistischen Parteizentrale in der King Street beschafft worden waren, hatte er einen Reisepaß. Am Victoria-Bahnhof nahmen sie den Zug mit Anschluß an die Fähre und trafen Mitte des Nachmittags an der Gare du Nord in Paris ein. Joe, der als einziger von ihnen französisch sprach, führte sie zum Bureau des Syndicats , dem Sammelort der Rekruten der Internationalen Brigaden in Paris. Den Abend verbrachte er mit Besuchen bei alten Freunden, trank eine Menge Rotwein und schrieb eine Karte an Robin.
Am folgenden Morgen bestiegen sie an der Gare d'Austerlitz den sogenannten »Roten Zug«. Auf dem Bahnhof drängten sich jubelnde Menschen mit Fahnen und Transparenten, auf denen die Worte Vive la République und Vive le Front Populaire standen. Joe zählte über ein Dutzend verschiedener Nationalitäten unter den Passagieren des Zugs, ehe er sich zusammen mit ein paar Schotten aus Glasgow und drei der Männer, mit denen er schon seit London zusammen war, in ein Abteil quetschte. Dann schloß er die Augen und schlief fast die ganze Fahrt bis Perpignan.
In Perpignan saßen sie zwei Tage untätig herum, ehe die Busse eintrafen, die sie über die spanische Grenze bringen sollten. In Figueras wurden sie in einem prächtigen Schloß untergebracht und taten die nächsten Tage nicht viel mehr, als in der langweiligen kleinen Stadt herumzuspazieren. Joe fotografierte ein wenig und machte ein, zwei Skizzen von den düsteren Kneipen und den wenig einladenden Bordellen. Er schrieb Robin einen Brief, hatte aber seine Zweifel, daß er sie erreichen würde.
Per Zug fuhren sie schließlich weiter nach Barcelona, in alten hölzernen Waggons, die den ganzen Weg bis in die Stadt unaufhörlich schepperten und klapperten. An jedem Bahnhof warteten jubelnde Mengen, erhobene Fäuste wurden geschüttelt, Parolen gebrüllt. No pasaran und Viva la Brigada Internationala schallte es von Bahnhof zu Bahnhof, und in den Waggons hing der süße Duft der Blumen, die junge Mädchen hereingeworfen hatten. Am Bahnhof von Barcelona empfing sie ein Meer von Fahnen in den Farben der Republik, und Transparente hießen sie willkommen. Eine Frau warf Joe die Arme um den Hals und küßte ihn, und er meinte, endlich das Richtige getan zu haben:Er war kein Zuschauer mehr, der tatenlos abseits stand. Er war dabei, Geschichte zu schreiben, er war Teil einer Massenbewegung, die die giftigen Fluten des Faschismus aufhalten würde.
Barcelona war mit Plakaten und Parolen gepflastert. Die Kirchen waren geschlossen, und auf den Straßen brodelten die Menschenmassen. Die normalerweise sichtbaren äußeren Zeichen von Klassenunterschieden waren verschwunden – alle hatten
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