Das Winterhaus
Straße hinauf davon. Sie sah ihm nach. Das Mondlicht umriß seine hochgewachsene, schlanke Gestalt und glänzte auf seinem welligen hellen Haar.
Robin lief wie immer ins Winterhaus. Der dünne Schnee, der auf dem Rasen lag, knirschte unter ihren Füßen, und ihre Hand rutschte am eisverkrusteten Geländer ab. Nachdem sie die Tür aufgedrückt hatte, tastete sie auf dem Bord nach Streichhölzern und zündete die Kerzen an. Es war kein Holz da, weder im Ofen noch im Korb. Eis hatte sich auf dem Fensterbrett gebildet und glitzerte in den Spinnweben, die von den Wänden hingen.
Sie sah sich um und konnte nicht verstehen, was geschehen war. Dieser Ort, der einst ihre Zuflucht gewesen war, schien hoffnungslosem Verfall preisgegeben. Die Bodenleisten waren verschimmelt, Nachwirkung der Überschwemmungen vergangener Jahre, und durch die Ritzen zwischen den Bodendielen drang kalte Luft ein. Das Winterhaus schien kleiner, häßlicher, als wäre sie ihm, ohne es zu merken, entwachsen. Als sie zum Tisch blickte und die Kästen voller Steine und Federn und Muscheln sah, hörte sie wieder Maias Worte: »Ihr Summerhayes seid ja so große Sammler!« Schluchzend drückte Robin ihr Gesicht in ihr Taschentuch.
Nach einer Weile hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde. Dicke, warme Wolle wurde ihr um die Schultern gelegt.
»Du bist ganz durchgefroren, Kind. Du solltest wieder ins Haus kommen.«
Sie sah zu ihrem Vater auf. »Maia –«
»Maia ist gegangen.«
Im dämmrigen Licht des Winterhauses sah Richards Gesicht grau und faltig aus.
»Was für ein schrecklicher Geburtstag für dich, Pa. Es tut mir so leid …« Sie konnte nicht weitersprechen.
Richard sagte behutsam: »Es geht um Joe, nicht? Du hast Angst um Joe.«
Robin nickte.
»Du hast ihn sehr gern, nicht wahr, Robin?«
»Ich liebe ihn. Und ich habe so lange gebraucht, um es zu erkennen. Ich war so dumm .«
Richard zog sie hoch und nahm sie in die Arme. Ihr Gesicht an seine Schulter gedrückt, fragte sie: »Glaubst du, daß Maia recht hat, Pa? Daß wir uns nur drücken – den Weg des geringsten Widerstands gehen? Weißt du, manchmal denke ich …«
»Was denkst du manchmal, Robin?«
»Daß wir vielleicht Pazifisten sind, weil wir Angst haben, und aus keinem anderen Grund.«
Sie wollte die Versicherung von ihm, daß zumindest er keine Zweifel hatte.
»Nicht aus Prinzip?«
»Weil wir es nicht ertragen können, unsere Freunde – oder Geliebten oder Söhne – zu verlieren. Da sehen wir lieber zu, wie allen anderen die schlimmsten Dinge geschehen.« Ihre Stimme war brüchig. »Zum Beispiel, daß deutsche Flugzeuge Frauen und Kinder bombardieren?« sagte er, und sie ging auf die Veranda hinaus, die Wolljacke ihres Vaters fest um ihre Schultern gezogen.
»Ich habe Angst, daß wir nur Pazifisten sind, weil wir dann nicht unser eigenes Leben oder das der Menschen, die wir lieben, riskieren müssen.«
Die Unterarme auf das Geländer gestützt, sah sie in das Wasserbecken hinunter. Eine dünne, undurchsichtige Eisschicht hatte sich am Wasserrand geformt. All die Fragen, die sie quälten, seit Joe nach Spanien abgereist war, waren durch Maias kalte, höhnische Worte von neuem aufgeworfen worden. »Ich meine, Pa – verurteilst du die Männer, die sich freiwillig zu den Internationalen Brigaden gemeldet haben? Findest du es falsch von Joe, in Spanien zu kämpfen?«
Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht, Robin. Joe tut das, was er für richtig hält. Aber es gibt auch andere Mittel, für ein Anliegen zu kämpfen.«
»Briefe an die Abgeordneten? Demonstrationen?« Sie hörte und bedauerte sofort den Sarkasmus in ihrem Ton.
Ihr Vater sagte lange nichts. Die Wolken, die den Schnee mitgebracht hatten, waren längst vorübergezogen, und eine orangefarbene Mondsichel hing schief am dunklen Himmel.
»Ich liege oft nachts wach«, sagte ihr Vater schließlich, »und zerbreche mir den Kopf über diese Fragen. Es ist so, wie Maia gesagt hat, wir sammeln Geld für Spanien, wir schicken Verpflegungspakete, und nichts davon beeinträchtigt uns in unserem behaglichen Leben … Und wenn es sich um eine so eindeutig gerechte Sache handelt … Ich frage mich, ob ich nicht, wenn ich noch jung wäre …«
Sie sah, wie müde er aussah, wie alt. Schuldgefühle und Furcht ergriffen sie. Es erschütterte sie, daß auch ihr Vater seine Überzeugungen in Frage stellte; daß seine Worte ihren eigenen inneren Widerstreit spiegelten. Da war auf der einen Seite ihr Abscheu vor
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