Das Winterhaus
die Sonne schien. Spät in der Nacht, nach einer Vierzehn-Stunden-Schicht, pflegte sie die Instrumente, die für die nächste Schicht in wenigen Stunden gebraucht werden würden, zu reinigen und zu sterilisieren. Einmal, als sie im Spülbecken Verbände auswusch, merkte sie plötzlich, daß sie mitten in der Arbeit, die Arme bis zu den Ellbogen in kochend heißem Wasser, eingedöst war. Ihre Haut war rot und entzündet, und sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte.
Bei jedem Eintreffen eines Sanitätswagens von den näher der Front gelegenen Versorgungsstellen fürchtete Robin, Hugh oder Joe zu sehen. Jedesmal mußte sie sich erst innerlich wappnen, ehe sie es wagte, die neuen Gesichter anzusehen. Und im Schwindel ihrer Erschöpfung meinte sie manchmal, sie wirklich zu sehen, ihren Bruder und ihren Geliebten, wenn ihre überreizte Phantasie fremden Gesichtern die vertrauten Züge aufdrückte. Viele der Spanier waren fast noch Kinder. Wenn sie die Sterbenden in den Armen hielt, wußte sie, daß sie sich nicht getäuscht hatte, daß der Krieg ein Greuel war, wahrhaft böse.
Joes Einheit war nach den Verlusten, die sie bei Madrid erlitten hatte, dem britischen Bataillon der fünfzehnten Internationalen Brigade einverleibt worden. Nicht einmal die Kämpfe, die er bei Madrid mitgemacht hatte, hatten Joe auf die Schlacht von Jarama vorbereiten können. Auf diesen ohrenbetäubenden Lärm, den unablässigen Donner der Geschütze und Flugzeuge. Auf die Bomben, die riesige Krater in die Hügelhänge rissen, die Granaten, die ihre Feuerblitze in die rauchgeschwängerte Luft spien. Auf den beißenden Geruch nach Pulver und verbranntem Fleisch und auf die Schreie der Verwundeten. Selbst wenn die Geschütze vorübergehend schwiegen, dröhnte ihr Lärm Joe weiter in den Ohren. Die blaßbraune Erde wurde zu matschigem Lehm zertrampelt; in der Nacht gefror der Matsch. Sie aßen und schliefen, sie lebten in dem seichten Graben.
Sie sahen zu, wie deutsche Junkers, die Hakenkreuze auf ihren Schwanzflossen deutlich sichtbar, sich in der Luft mit russischen Chatos schlugen. Zu Land gelang es ihnen trotz erbitterten Kampfes nicht, den stetigen Vormarsch der Nationalisten zurr Flußufer aufzuhalten. Wenn es den Nationalisten gelänge, die Durchgangsstraße zu erobern, wäre Madrid verloren. Abgeschnitten von den Einheiten zu beiden Seiten, fragten sie sich, ob es diese Einheiten überhaupt noch gab oder ob sie sich zurückgezogen hatten oder von Bomben aufgerieben worden waren und sie nun allein noch übrig waren, nackt und ungeschützt an der Flanke des Hügels. Mangels anderer Kommunikationsmöglichkeiten sandten sie Späher aus, um nach rechts und links die Lage zu erkunden. Alle waren sie ständig hungrig, durstig und erschöpft. Und voller Angst. Diese andauernde Angst, die an seinen Nerven riß und seinen Schlaf störte, überraschte Joe. Er hatte immer geglaubt, man gewöhnte sich an die Angst, sie ließe mit der Zeit nach.
Nationalistische Truppen hatten den Jarama überquert. Für Joe wurde das Flußtal zu einer Höllenlandschaft.
Einmal, als er auf dem Weg zu einem anderen Bataillon war, um eine Nachricht zu überbringen, stolperte er über einen Verwundeten, der in einem Graben lag. Als er die klaffende Bauchverletzung sah, hätte er sich beinahe übergeben. Fliegen krochen über die unkenntliche Masse von Blut und Gewebe. Schlimmer noch: Die Augen des Mannes waren weit geöffnet, und er bat auf spanisch um Wasser. Es entsetzte Joe, daß dieser Mensch auf so grauenvolle und entwürdigende Weise sterben mußte; und noch mehr entsetzte ihn, daß er wußte, daß er starb. Joe hielt dem Mann seine Wasserflasche an die spröden, aufgesprungenen Lippen und schob ihm sein Hemd unter den Kopf und hatte dabei die ganze Zeit das Gefühl absoluter Sinnlosigkeit. Er sagte: »Ich hole Ihnen Hilfe« und lief davon, genau wissend, daß er den Mann dem Tod überließ. Er mußte, so schien ihm, Stunden in dem Durcheinander hinter den Linien suchen, ehe er endlich Sanitäter fand, und da hatte er in Rauch und Lärm die Orientierung verloren und wußte nicht einmal, ob er die Leute in die richtige Richtung geschickt hatte. Seine Muskeln zitterten vor Erschöpfung, Schuldgefühle und das Bewußtsein seines eigenen Versagens überwältigten ihn.
Maia erhielt einen Brief von Léon Cornu, in dem er sie bat, mit ihm in London zu Mittag zu essen. Neugierig (es waren erst sechs Monate seit ihrem letzten Zusammentreffen vergangen) fuhr
Weitere Kostenlose Bücher