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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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behüten.

17
     
    Helen war ganz allein in der Kirche von Thorpe Fen. Schräge Sonnenstrahlen fielen durch die Buntglasfenster und warfen schimmernde Farbflecke auf den Steinboden. Sie hatte Zweige mit zarten Apfelblüten und schwer fallendem weißem Flieder in die Vasen gestellt. Der starke Duft des Flieders verdrängte beinahe den Geruch des Bienenwachses, mit dem sie die Kirchenstühle eingerieben hatte. Sie legte die Wachsdose und die Gartenschere nieder und setzte sich in eine der Bänke. Sie schloß die Augen und faltete die Hände. Am Morgen hatte sie einen Brief von Daisy Summerhayes erhalten, in dem diese ihr mitgeteilt hatte, daß Hugh in Spanien gestorben war. Still saß Helen da und versuchte zu beten. Aber die rechten Worte wollten nicht kommen. Sie waren bleiern und schwer und mußten wieder zur Erde hinabstürzen, ehe sie zu Gott aufsteigen konnten. Statt zu beten dachte sie an Hugh, froh, daß sie sich seiner jetzt mit einer Zuneigung erinnern konnte, die nicht durch Scham beeinträchtigt war. Hugh war ihr Freund gewesen – er hatte sie wie ein Freund geliebt – ,und jetzt war er tot. Flüchtig fragte sie sich, ob sie an seinem Tod Anteil gehabt hatte. Sie hatte Maia abgeraten, ihn zu heiraten, und Maia hatte die Verlobung gelöst, und Hugh war daraufhin nach Spanien gegangen. Dennoch schien Helen sein Tod eine Unvermeidbarkeit zu haben, als wäre Hughs Weg vor langem schon abgesteckt gewesen und er wäre nur eine kleine Weile vom Pfad abgeschweift.
    Als sie die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf das Fenster, das den Männern aus Thorpe Fen gewidmet war, die im Weltkrieg gefallen waren. Ein Soldat mit Khakimütze, unwahrscheinlich heiter, von Engeln umgeben, und darunter in Stein gemeißelt die Liste der Namen: Dockerills und Titchmarshs, Hayhoes und Reads. Ein Teil von Hugh, meinte Helen zu wissen, war vor langer Zeit schon auf einem Schlachtfeld in Flandern gestorben. In Spanien hatte sich nur ein Schicksal vollendet. Helen versuchte, sich Hughs Leiden vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Diese Welt – diese Männerwelt der Soldaten, des Kampfes und des Heldentods – war ihr fremd. Sie war ihr verschlossen und spottete der Trivialität ihres eigenen Unglücks. Im Krieg wurde das Schicksal von Völkern entschieden, doch Frauen durften nur am Rand stehen – pflegen wie Robin oder weinen wie Daisy Summerhayes. Der Krieg nahm den Frauen die Menschen, die sie am meisten liebten – ihre Männer, ihre Brüder, ihre Söhne. Im Weltkrieg war eine ganze Generation junger Männer hingeschlachtet worden – als Helen ein zweites Mal zu dem Gedenkstein aufsah, konnte sie sich dieser Jungen, die in den Krieg gezogen waren, wie flüchtiger Geister erinnern. Harry Titchmarsh und Ben Dockerill und die Read-Zwillinge. Männer, die jetzt in Thorpe Fen leben, ihre Felder bestellen, ihre eigenen Söhne heranwachsen sehen müßten.
    Mit schlechtem Gewissen wurde sich Helen bewußt, daß sie einen Moment lang Hugh beinahe vergessen hatte. Noch einmal versuchte sie für seinen Seelenfrieden zu beten. Ihre gemurmelten Worte brachen sich an den alten steinernen Mauern der Kirche und wurden zu ihr zurückgeworfen. Sie sah sich um, verzweifelt nach dem geistigen Trost suchend, den sie früher einmal so leicht gefunden hatte. Sie sagte die Worte des Nunc Dimittis auf, aber es half nichts. Als sie an einer beliebigen Stelle ihr Gesangbuch aufschlug, fiel ihr Blick auf den ersten Vers der Lieblingshymne ihres Vaters. »Auf, Christenmensch, auf, auf zum Streit …« Die Worte vertieften noch ihre Trostlosigkeit. Sie konnte sich Robin vorstellen, wie sie auf ihre eigene Weise in den Streit zog, oder auch Maia, aber nicht sich selbst. Nicht die dicke, dumme Helen Ferguson, die nie zu etwas anderem gut gewesen war, als den Haushalt zu machen und kleine Kinder zu knuddeln.
    Sie hatte die Augen jetzt offen, auf das mit Juwelen besetzte Kreuz auf dem Altar gerichtet. Sie spürte, wie die schwarze Freudlosigkeit des vergangenen Jahres wieder von ihr Besitz ergreifen wollte. Ihr Gebet wurde inbrünstiger, bekam etwas Verzweifeltes. Wenn Gott ihr seine Liebe versagte, was blieb ihr dann noch? Sie stand auf und ging zum Altar und berührte das Kreuz, um sich Versicherung zu holen. Im selben Moment wurde ihr bewußt, was sie getan hatte, und sie wich entsetzt über sich selbst zurück. Hastig sah sie sich in der Kirche um.
    Sie war immer noch allein. Niemand war in der Kirche, nichts. Sie war nur ein altes Gebäude voll

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