Das Winterhaus
einer Erkenntnis, die unerträglich war. Wenn sie auch nur einen Moment lang vergaß, mußte sie danach von neuem den überwältigenden Ansturm des Schmerzes ertragen. Der Schmerz war begleitet von einem heftigen Zorn. Joe, der jung und gut und begabt gewesen war, war tot. Geringere – gewöhnliche Menschen, talentlose Menschen – hatten überlebt, aber er hatte sterben müssen. Manchmal hatte sie das Gefühl, wenn sie nur aus der Zeit heraustreten, wenn sie die Dinge nur aus einem etwas anderen Winkel sehen könnte, würde sie entdecken, daß sie sich geirrt hatte und daß Joe, mit dem sie den Rest ihres Lebens hatte verbringen wollen, noch da war. Es wird schon besser werden, wenn ich mich daran gewöhnt habe, sagte sie sich, aber sie konnte sich nicht vorstellen, sich je daran zu gewöhnen.
Sie erhielt einen Brief von ihrer Mutter, in dem diese ihr von Helen berichtete. Als sie ihn las, empfand sie nichts. Daß man Helen eingesperrt hatte, weil sie ein kleines Kind entführt hatte, schien ihr nur in diese gleichgültige, grausame Welt zu passen. Daisy hatte geschrieben: »Du siehst also, Maia hatte recht. Wir haben Helen vernachlässigt. Keiner von uns hatte eine Ahnung, daß sie in solcher Not war.« Sie konnte beinahe die Bitterkeit in der Stimme ihrer Mutter hören. »Wir sind wirklich selbstzufrieden geworden, ohne es zu merken, Richard und ich. Es ist schrecklich, das erkennen zu müssen.«
Die nette Aufseherin tippte Helen an, als diese gerade einen Kopfkissenbezug durch die Mangel schob.
»Die Direktorin will Sie sprechen, Ferguson.«
Helen trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab und folgte der Aufseherin durch mehrere Korridore und Türen. Die Direktorin, eine stramme Frau mit eisengrauem Haar, das zu einem Knoten gedreht war, blickte auf, als Helen eintrat.
»Ihre Kleider, Ferguson.« Sie deutete auf eine braune Papiertüte auf dem Tisch. »Sie können sich im Untersuchungsraum nebenan umziehen.«
Helen starrte verwirrt auf die Tüte. Sie erinnerte sich, was die anderen Gefangenen gesagt hatten. »Sie werden dich in die Klapsmühle schicken.« Sie begann zu zittern.
»Worauf warten Sie noch, Ferguson? Wollen Sie nicht nach Hause?«
»Nach Hause?« flüsterte Helen.
»Die Anzeige gegen Sie ist zurückgezogen worden«, sagte die Direktorin kurz und beugte sich wieder über ihre Schreibarbeit.
Benommen schlüpfte sie im Untersuchungsraum in das Kleid und die Strickjacke, in denen sie im Gefängnis angekommen war. Die nette Aufseherin brachte sie zum Tor und sagte: »Benehmen Sie sich anständig, Ferguson. Wir wollen Sie hier nicht wiedersehen.« Dann stand sie allein auf der fremden Straße, das kleine Bündel ihrer Sachen unter dem Arm.
Eine vertraute Stimme rief ihren Namen. Helen sah auf.
»Maia? Oh, Maia!« Als sie ihr entgegenlief, begann sie zu weinen.
Im Krankenhaus begann Helen sich langsam besser zu fühlen. Sie lag in einem kleinen Zimmer mit gelbgesprenkelter Tapete und geblümten Vorhängen, und man ließ sie die meiste Zeit in Ruhe. Ab und zu kam Dr. Schneider und sprach mit ihr, aber sonst lag sie nur da und blickte zum Fenster hinaus zu den Butterblumenwiesen. Sie hatte gar nicht gewußt, daß sie so müde war. Allmählich beruhigte sich das wirre Summen in ihrem Kopf: Ihr wurde bewußt, daß sie schon seit sehr langer Zeit nicht mehr fähig gewesen war, klar zu denken. Jetzt jedoch, während sie in diesem kleinen Zimmer lag, begann die Vergangenheit sich zu klären. Seit dem Tag, als sie in Robins Winterhaus auf der Veranda gesessen und gesagt hatte: »Ich wünsche mir ein kleines Häuschen. Und Kinder natürlich«, war so vieles schiefgegangen. Sie hatte zuerst Geoffrey verloren und dann Hugh; sie hatte versucht, aus der Gefangenschaft ihres Vaters auszubrechen, und es war ihr nicht gelungen.
Anfangs wollte sie niemanden sehen außer Maia. Dann brachte ihr die Schwester eines Tages ein kleines Paket.
»Ein Herr hat das für Sie abgegeben, Helen.«
Sie schlug das Seidenpapier auseinander. Darunter war ein Kästchen, vielleicht zehn mal zehn Zentimeter groß, mit eingelegten Bildtäfelchen aus gefärbtem Holz.
»Er wartet draußen. Kann ich ihn hereinführen?«
Helen nickte langsam.
Groß und breitschultrig trat Adam in das kleine Zimmer. »Es ist so schön, dich zu sehen, Liebes«, sagte er, und sie bat ihn, sich auf den Stuhl neben dem Bett zu setzen.
»Das ist wunderschön, Adam.« Sie hob das Kästchen hoch.
»Du kannst es als Schmuckkasten benützen.« Adam
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