Das Winterhaus
klappte den Deckel auf. Innen war das Kästchen mit rotem Samt ausgeschlagen. »Auf den Täfelchen sind Bilder von Dingen, die mich an dich erinnern. Da ist dein Kater, schau.« Er wies auf die kleine schwarze Katze, deren Bild auf einer Seite des Kästchens eingelegt war. »Der alte Percy. Ich hab ihn jetzt bei mir in London. Er versucht immer noch Vögel zu fangen, aber es will nicht mehr so recht klappen. Und da ist eine Rose. Weißt du noch, als du dir damals eine von meinen Rosen an den Hut gesteckt hast, Helen?« Er drehte das Kästchen weiter. »Und ein Tanzschuh.«
»Wir haben nie zusammen getanzt, Adam.«
»Doch, Liebes. Es ist lange her. Beim Erntefest.«
Helen legte sich in ihr Kissen zurück und dachte angestrengt nach. Dann murmelte sie: »›Wenn die Winde leise atmen und die Sterne helle funkeln.‹« Sie weinte ein wenig. »Ach Adam«, sagte sie leise, »was mußt du nur von mir denken!« Von Scham überwältigt über das, was sie getan hatte, schlug sie die Hände vor ihr Gesicht. Die Vorstellung, wie dieser Mutter zumute gewesen sein mußte, als sie den leeren Kinderwagen entdeckt hatte, quälte sie tief.
Sie hörte Adam sagen: »Was ich von dir denke? Das kann ich dir sagen, Helen. Ich denke, daß du die wunderbarste Frau bist, die ich je gekannt habe. So habe ich immer schon gedacht.«
Mit geschlossenen Augen wandte Helen sich ab. »Ich bin müde, Adam. Ich glaube, ich schlafe jetzt ein wenig.« Sie hörte ihn auf Zehenspitzen aus dem Zimmer hinausgehen und nickte ein, das Kästchen fest in ihrer Hand.
Tage vergingen. Es erschien Helen unmöglich, daß sie auch nur den Versuch machen sollte, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen, wie Dr. Schneider ihr immer wieder vorschlug. Mit Dr. Schneiders Hilfe hatte sie so viele Schichten entfernt, daß sie nicht sicher war, ob überhaupt noch etwas von ihr übrig war, das sich neu zusammenfügen ließ. Sie konnte nicht lesen, nicht stricken, nichts; wenn sie am Fenster saß und zur Wiese hinaussah, fühlte sie sich wie eine leere Hülle. Als die Schwester meinte, sie solle sich ankleiden und auf die Veranda hinaussetzen, brauchte sie ewig, um mit zitternden Händen ihr Kleid zu knöpfen und ihre Schuhe zu binden. Draußen sah sie zu ihrer Überraschung, daß das Laub an den Bäumen schon anfing braun zu werden, daß das Gras den blassen Ockerton des Spätsommers hatte.
Dr. Schneider kam zu ihr hinaus. »Wollen wir ein Stück spazierengehen, Helen? Es gibt einen hübschen Weg durch den Wald.«
Sie gingen den Aschepfad unter Bäumen hindurch. Der leichte Wind blies Helen das Haar, das sie ihr im Gefängnis abgeschnitten hatten, ins Gesicht.
»Es ist schön hier, nicht wahr?«
Helen sah sich langsam um, betrachtete die fernen Wiesen und Felder, die in leichtem Dunst lagen, den Fluß, in dem glatte braune Fische zwischen Tangfäden hin und her schossen, die gewaltigen Bäume über ihr, deren dunkelgrüne Kronen beinahe den Himmel zu berühren schienen.
»Ja«, sagte sie nachdenklich. »Ja, es ist schön.«
Dr. Schneider ermutigte sie, wieder mit dem Zeichnen und dem Nähen anzufangen. Maia besuchte sie, elegant in cremefarbener Seide. Helen war überrascht, sich über einige der Geschichten, die sie erzählte, laut lachen zu hören. Sie bekam wieder Appetit, sie schlief nachts wieder durch. Sie ging ins nahe gelegene Dorf und kaufte sich eine Zeitschrift und eine Tafel Schokolade. Nachdem sie sich die Haare gewaschen hatte, schnitt sie es mit ihrer Handarbeitsschere zu einem schicken blonden Pagenkopf.
Eines Tages, als sie auf der Veranda saß und zeichnete, fiel ein Schatten auf ihr Papier. Helen drehte sich herum. Sie lächelte, als sie Adam sah. Er beugte sich zu ihr hinunter und küßte ihre Wange. Er hatte ihr einen Strauß Herbstastern mitgebracht.
»Die sind aber schön. Ich vermisse meinen Garten.«
Er holte sich einen Korbsessel und setzte sich zu ihr. »Zu dem Haus, das ich in Richmond gemietet habe, gehört ein Garten. Allerdings nur ein kleiner.« Adam beugte sich vor und nahm ihre Hand. »Das Haus ist für uns, Helen. Für uns beide zusammen.«
Sie bekam Herzklopfen.
»Ich wollte dich eigentlich noch gar nicht fragen. Ich wollte warten, bis du wieder ganz gesund bist. Aber ich habe so viele Jahre gewartet, daß ich es nicht mehr aushalten kann. Willst du meine Frau werden, Helen?«
Sie wandte sich von ihm ab. Ihr Zeichenblock rutschte von ihrem Schoß auf die Steinplatten. Sie konnte nicht sprechen, sie schüttelte nur den
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