Das Winterhaus
dem Schild darüber, und sofort lieferte Helens Phantasie Bilder von Pagoden und Papierdrachen und schwarzhaarigen Frauen mit winzigen Füßen. Herrliche Farben: blaß und zart und dennoch intensiv. Lange stand sie da und versuchte sich auszurechnen, ob sie genug Geld hatte, um zu beiden Baumwollstoffen noch eine Seide dazunehmen zu können, oder ob sie auf einen der Baumwollstoffe würde verzichten müssen. Im Kopf gerieten ihr die Zahlen wie immer durcheinander, und zum Abzählen reichten ihre Finger nicht. Schließlich gab sie alle Bemühungen auf und legte die gestreifte Baumwolle wieder zurück. Streifen würden sowieso nur ihre Größe betonen; Helen wäre gern etwas kleiner gewesen. Sie strich mit den Fingerspitzen über die Seidenstoffe, während sie versuchte, sich für eine Farbe zu entscheiden. Nach langem Zögern nahm sie ein blasses Minzgrün.
Als ihre Einkäufe verpackt waren, verließ Helen das Geschäft. Auf der anderen Seite der Grünanlage rund um die Kathedrale bemerkte sie eine vertraute Gestalt. Hochgewachsen, kurzes braunes Haar, Oberlippenbärtchen. Sie blieb einen Moment an der Kante des Bürgersteigs stehen, unsicher, wie sie sich verhalten sollte. Geoffrey Lemon hatte es vielleicht eilig; er erinnerte sich vielleicht gar nicht an sie – ein schrecklicher Gedanke. Helen war schon im Begriff umzudrehen und zum Bus zu laufen. Aber da sah er sie und winkte.
»Miss Ferguson!« Er rannte über das Gras zu ihr.
»Mr. Lemon.« Sie konnte ihm wegen ihrer Pakete nicht die Hand geben.
Ein peinliches Schweigen trat ein. Dann hatte er einen erlösenden Einfall: »Darf ich Sie zu einer Tasse Tee einladen, Miss Ferguson? Einkaufen macht sicher durstig.«
Bei Tee und Kuchen im Copper Kettle sprach es sich etwas leichter. Geoffrey studierte Medizin und würde, wenn er seinen Abschluß hatte, in die Praxis seines Vaters eintreten. Er hatte vier jüngere Geschwister und jede Menge von Cousins und Cousinen, da war im Haus seiner Eltern in Burwell immer viel Betrieb. Er erzählte Helen einige Geschichten über Streiche der Medizinstudenten, die ihr die Sprache verschlugen. Dann wollte er mehr über sie wissen.
»Oh – da gibt es nicht viel zu erzählen.« Sie schenkte ihm eine zweite Tasse Tee ein. »Daddy und ich führen ein sehr ruhiges Leben. Früher hatte ich eine Gouvernante, aber sie ist schon vor Jahren gegangen. Im Unterricht war ich sowieso hoffnungslos. Ich nähe und zeichne gern und so was. Und ich schreibe manchmal Gedichte.« Sie errötete plötzlich. Sie hatte niemandem von ihren Gedichten erzählt, nicht einmal Robin und Maia.
»Wirklich!« In seinen Augen lag Bewunderung. Hübsche Augen, ein warmes Braun. Helen spürte, wie ihr Gesicht sich noch dunkler färbte.
»Ach, nur alberne kleine Verse.« Sie starrte auf ihren Teller hinunter.
Geoffrey rieb seinen Schnurrbart. Dann sagte er hastig: »Fahren Sie gern Rad? Ich könnte Sie einen Tag mal abholen.«
Er kam an einem Nachmittag, als sie im Garten Unkraut jätete. Insgeheim und mit schlechtem Gewissen stieß Helen einen Seufzer der Erleichterung aus, daß ihr Vater in Gemeindeangelegenheiten unterwegs war. Stundenlang fuhren sie auf ihren Rädern zwischen Feldern und Dämmen über das flache Land. An den Straßenrändern blühten Frühlingsblumen: Himmelschlüssel und Wiesenschaumkraut und einige frühe Sumpforchideen. An einem Fluß hielten sie an und legten ihre Fahrräder unter einer Weide nieder.
Helen erzählte Geoffrey von Maia und Robin. »Maia heiratet im nächsten Monat. Und Robin ist in London. Sie fehlt mir sehr, Geoffrey. Und Hugh vermißt sie auch.«
Er saß an den Baumstamm gelehnt, sein Gesicht war von der Krempe seines Strohhuts beschattet. »Fühlen Sie sich da nicht manchmal einsam, immer ganz allein mit Ihrem Vater?«
»Daddy ist –«, begann Helen, fand es aber plötzlich schwierig zu erklären, wie sehr ihr Vater sie brauchte, nachdem die idyllische Ehe ihrer Eltern nach schon einem Jahr auf so tragische Weise geendet hatte und ihr Vater als Witwer mit einem sechs Wochen alten Säugling zurückgeblieben war.
»Daddy ist sehr gut zu mir. Wir haben ja nur noch uns, weil meine Mutter gestorben ist, als ich noch ein ganz kleines Kind war. Aber manchmal kommt mir das Haus wirklich riesig vor für uns zwei allein.«
»Kleine Geschwister sind eine schreckliche Plage – Sie haben Glück, wissen Sie. Helen – Sie müssen einmal zum Tee zu uns kommen. Ma hat das auch gesagt. Und ich würde mich sehr freuen.«
Sie
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