Das Winterhaus
seinen mageren, unterernährt wirkenden Körper.
Sie machte schwarzen Kaffee, er zündete sich eine Zigarette an und blätterte ihre Notizen durch. Robin wußte, daß Joe über jene Art praktischer Intelligenz verfügte, die so unterschiedliche Dinge wie Automotoren und höhere Mathematik problemlos erfassen konnte. Nachdem er ihr einen Vortrag über ihre unleserliche Handschrift gehalten hatte, erklärte er ihr kurz und klar die X- und Y-Achsen und sagte dann: »Aber das alles brauchst du gar nicht, Robin. Da genügen ein paar schöne dicke Ausstellungen, die gleich ins Auge fallen. Alles, was komplizierter ist, verstehen die meisten Leute sowieso nicht.«
Er skizzierte ihr, was er meinte, auf einem Blatt Papier, und sie war augenblicklich ungeheuer erleichtert. Immer noch begleitete sie das schreckliche Gefühl, ständig mit ihren verschiedenen Lebensbereichen zu jonglieren, aber wenn sie wenigstens die Arbeit im Griff hatte, fühlte sie sich etwas weniger gehetzt.
»Du bist toll, Joe«, sagte sie und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Frühstück?«
»Ich muß um zehn draußen vor dem Arbeitsamt sein.« Er sah auf seine Uhr. »Da ist eine Demonstration gegen das Bedürftigkeitsermittlungsverfahren. Willst du mitkommen, Robin?« Er sah sie lachend an. »Überleg mal, die frische Luft und die Bewegung … das macht doch viel mehr Spaß, als am Schreibtisch zu sitzen.«
»Du mußt mir versprechen –«
Er hob beide Hände. »Keine Gewalt. Es wird keine große Sache.« Doch als sie das Arbeitsamt Hackney erreichten, drängten sich vor den Toren des Gebäudes bereits an die zweihundert Menschen. Mit Transparenten und Plakaten protestierten sie gegen die Ungerechtigkeit der Bedürftigkeitsermittlung. Die Sommersonne schien heiß auf die Köpfe der Männer in ihren Schirmmützen und auf die der Frauen in ihren bunten Kappen oder billigen Strohhüten hinunter. An den Straßenecken hatten sich Gruppen arbeitsloser Männer versammelt, die das Treiben mit apathischem Blick verfolgten. »Verdammt«, flüsterte Joe plötzlich, und Robin sah ihn fragend an.
»Was ist denn?«
»Das ist Wal Hannington, schau, Robin.«
Jemand hatte auf dem Bürgersteig vor dem Arbeitsamt eine Orangenkiste aufgestellt; ein Mann drängte sich durch die Menge dorthin. Robin musterte den Führer der NUWM mit Interesse.
»Es ist besser, du gehst jetzt, Robin.«
Sie war empört. »Ich soll gehen? Kommt ja nicht in Frage. Ich möchte ihn reden hören.«
Joe erklärte ungeduldig: »Wenn Hannington hier ist, ist die Polizei auch nicht weit. Er ist Kommunist und ein Hitzkopf und war im letzten Jahr immer wieder im Gefängnis. Es gibt bestimmt Ärger – geh doch!«
Sie sah ihn wütend an. Die Menge hinter ihr wogte vorwärts, alle wollten Wal Hannington reden hören. Sie beschloß, nicht zu gehen, und gleich darauf war es sowieso zu spät, noch zu verschwinden. Bei Hanningtons erstem lautschallendem »Genossen!« drängte die Menschenmenge plötzlich vorwärts. Sie spürte, wie Joes Fingerspitzen flüchtig die ihren berührten, als er sie bei der Hand nehmen wollte. Und als sie sich, gegen den Ansturm von hinten kämpfend, umdrehte, konnte sie ihn nicht mehr sehen.
Robin konnte hinterher nicht genau sagen, was als nächstes geschehen war. Hannington begann zu sprechen, doch die Jubelrufe, die ihn begrüßten, wandelten sich beinahe augenblicklich in zorniges Murren. Als es ihr unter Schwierigkeiten gelang, über die Köpfe der Menge nach rückwärts zu blicken, sah sie im Sonnenlicht Helme aufblitzen. Die Polizisten waren beritten und überragten, auf ihren mächtigen, muskulösen Pferden sitzend, die Menge.
Wie es anfing, konnte sie später nicht sagen. Ein Schlagstock sauste durch das Sonnenlicht; eine Flasche flog durch die Luft und zersprang auf der Straße in glitzernde Scherben. Es hagelte Ziegelsteine, Pflastersteine, Blechdosen aus irgendeiner Mülltonne auf die Polizisten. Die Fronten waren gezogen. Von kräftigeren, schwereren Körpern gestoßen und gepufft, rutschte Robin aus und fiel auf die Knie. Ein Mann – nicht Joe – riß sie wieder in die Höhe. »Gehen Sie nach Hause, junge Frau – Sie haben hier nichts zu suchen.« Sie wußte, daß der Mann recht hatte, und sie, die selten Furcht empfand, verspürte eine eisige Beklemmung und panikartige Abwehr bei dem plötzlichen Ausbruch von Massengewalt. Sie versuchte sich durch das Gewühl zu der Gasse zurückzuarbeiten, aus der sie und Joe gekommen waren. Ein Polizist, den ein
Weitere Kostenlose Bücher