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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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    »Aber ich. Gott sei Dank ist Monatsanfang – mein Wechsel ist gerade gekommen.«
    Er sagte wütend: »Francis – ich kann unmöglich –«
    »Natürlich kannst du.« Francis stand auf und legte ein braunes Päckchen auf den Tisch. »Das ist mein Anzug – zieh ihn am Montag an. Ein sauberes Hemd ist auch dabei, und ich habe meine alte Schulkrawatte wiedergefunden, binde sie um. Man weiß nie, wozu es gut ist.«
    Er wollte erneut protestieren, aber Francis ließ ihn gar nicht zu Wort kommen.
    »Wenn du ins Gefängnis kommst, verlierst du deine Arbeit, Joe, und dann findest du nicht so leicht wieder eine. Robin hat Stunden gebraucht, um das Hemd zu bügeln und die Krawatte aufzumöbeln, und ich hab ein paar widerlichen alten Spießern um den Bart gehen müssen, um einen guten Anwalt für dich zu bekommen. Wir sehen dich vor Gericht.«
    Obwohl es ihm zutiefst zuwider war, tat Joe, was Francis ihm gesagt hatte, und ging in Anzug und Krawatte und mit reuevoller Miene vor Gericht. Der Anwalt, ein öliger Typ, erklärte in gedrechselten Sätzen, daß Joe, der einzige Sohn eines hochangesehenen Herrn aus Nordengland, ein tugendhafter, jedoch heißblütiger junger Mann sei. Er sei nur zufällig in den Aufruhr geraten und hatte, um das Wohl der jungen Dame besorgt, in deren Begleitung er gewesen war, in der Hitze des Augenblicks einen Polizeibeamten für einen der Aufwiegler gehalten. Joe wurde ermahnt, sich in Zukunft seinem Stand entsprechend zu benehmen, erhielt eine Strafe von zwanzig Pfund und mußte sich verpflichten, sechs Monate lang die öffentliche Ordnung nicht zu stören.
    Hinterher feierten sie. Die kleine Feier in der Souterrainwohnung entwickelte sich spontan zu einem Riesenfest mit hundert Menschen, die sich in den vier Zimmern drängten, so ausgelassen, daß der Lärm die ganze Straße hinunter gehört werden konnte. Erst als Joe sich in den frühen Morgenstunden mit einer Flasche Bier, einer Packung Zigaretten und fürchterlichen Kopfschmerzen in eine stille Ecke verkrochen hatte, fiel ihm wieder ein, was ihn während der drei Nächte in der Zelle getröstet hatte.
    Die Erinnerung an einen Kuß. An kühle Lippen, die flüchtig seine Wange berührt hatten.

8
     
    Die Welt, die Helen für kurze Zeit mit offenen Armen aufgenommen hatte, hatte sich ihr wieder verschlossen. Nach einer Woche im Krankenhaus war Julius Ferguson ins Pfarrhaus zurückgekehrt und nach oben, in das vordere Schlafzimmer gebracht worden, das er vor Jahren mit seiner Frau geteilt hatte. Erinnerungen an Florence füllten es: ein Ölgemälde an der Wand gegenüber dem Bett; der Teddybär und die Porzellanpuppen – die alle einst Florence gehört hatten – auf der Kommode, daneben die Fotografie, die kurz nach ihrer Eheschließung aufgenommen worden war. Auf dem Foto trug Florence ein duftiges weißes Kleid und Korkenzieherlocken. Sie saß mit einem Hündchen auf dem Schoß auf einer Schaukel.
    Das Nordzimmer war dunkel und kühl. Die Fenster waren klein, die Wände ockerfarben, und das Linoleum, damals der jungen Hausfrau zu Ehren neu verlegt, war rissig und schlug Blasen. Helen stellte jeden Tag frische Blumen auf den Tisch, aber in dem großen, tristen Raum konnten sie keine Wirkung entfalten. Die Stimmungswechsel ihres Vaters, der müde und von Schmerzen geplagt war, versagten ihr häufig seine Anerkennung, die so wichtig für ihren Seelenfrieden war. Er mäkelte an den Suppen und Mehlspeisen, für deren Zubereitung sie soviel aufwendete, herum. Ganz gleich, wie oft sie seine Kissen aufschüttelte oder die Decken richtete, es war ihm nie bequem. Seine Stimme, nörgelnd und fordernd, folgte ihr, wenn sie mit Tabletts und Wärmflaschen nach unten ging, und holte sie wieder zu ihm hinauf, sobald sie sich im Wohnzimmer niedersetzte, um zu lesen.
    Mit dem schleppenden Verlauf der Wochen verbrauchte sich ihre Geduld, und sie wurde immer gereizter. Als ihr Vater sich eines Morgens über die Temperatur des Wassers beschwerte, das sie ihm zum Rasieren gebracht hatte, drehte sie sich einfach um und ging aus dem Zimmer. Hätte nicht strömender Regen Wiesen und Wege aufgeweicht, hätte sie nicht die neugierigen Blicke der Dienstboten gefürchtet, sie wäre ins Freie gerannt.
    So aber stieg sie, dieses Mal seltsamerweise ganz ohne Furcht, die schmale, wackelige alte Treppe zum Speicher hinauf. Sie mochte den Speicher nicht und wagte sich höchstens ein- oder zweimal im Jahr dort hinauf, um nach Sachen für die Ramschbude des

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