Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
sie Anne mit durchschnittener Kehle vor sich sehen. Oder sie würde davon träumen, wie der Jäger Kim oder Alex in den Händen hatte. Oder sie träumte von George …
Jenna schüttelte entnervt den Kopf. Da blieb sie doch lieber freiwillig wach und zeichnete. Ohne ihr bewusstes Dazutun wurde es ein Gesicht. Das Gesicht der Frau, die sie in ihren Träumen schon gesehen hatte, den Mund entschlossen zusammengepresst, mit einem geflochtenen Zopf, der über ihre Schulter nach vorn hing. Doch Jenna war noch nicht fertig: Es entstand ein weiteres Gesicht, eine zweite Frau, Anfang zwanzig vielleicht. Abgemagert, schmutzig, das lange Haar verfilzt und voller Knoten. Der Bleistift wurde ihr nicht ganz ge recht, in Jennas Vorstellung besaß sie leuchtend grüne Augen, die gleichzeitig herausfordernd und doch unglaublich traurig blickten.
Schritte ließen sie aufblicken.
Antoine Lagardère schwang sich auf einen der Barhocker.
»Was machen Sie denn noch hier, Antoine?«
»Nachdenken. Wie Sie«, gab er lakonisch zurück. »Über das, was man weiß. Was ich weiß … Irgendetwas in mir sieht die Wahrheit – oder die Lüge.« Er räusperte sich.
»Vielleicht ist es der Schatten in mir, der mehr weiß als ich selbst?« Jenna musterte den jungen Franzosen nachdenklich. »Ist es das, was Sie heute so verstört hat? Abgesehen von der schrecklichen Sache um Anne – liegt Ihnen sonst noch etwas auf der Seele?«
Lagardère schwieg einen Moment. Er malte mit dem Finger unsichtbare Muster auf die Bar, unsicher, wie er seine Sorgen ausdrücken sollte. »Sie hat gesagt, er ist nur ein Schatten. Vielleicht ist es egoistisch, das zu fragen. Aber was bin dann ich?«
Jenna brauchte einen Moment, um zu verstehen, wovon er sprach. Sie rollte die Zeichnung zusammen, erhob sich, durchquerte den Raum und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Aber Antoine, das war allein auf den Jäger gemünzt. Sie waren damit nicht gemeint.« Sie rüttelte ihn leicht. »Sie mögen von den Schatten zurückgekehrt sein, aber ein Schatten geblieben sind Sie sicher nicht. Sie, Antoine, sind hell und dunkel, Licht und Schatten. Das hat meine Tochter sehr wohl bemerkt. Der Jäger hingegen, der ist nur schwarz. Da ist kein Fünkchen Leben. Ich denke, wir alle hier kennen den Unterschied.«
»Sie wissen gar nichts über mich.« Lagardère klang bitter.
»Das liegt daran, dass wir seit Tagen nicht mehr dazu kommen, innezuhalten und zu reden. Ich meine ganz normale Unterhaltungen bei einem Glas Wein. Nach denen man ins Bett geht und am nächsten Morgen aufsteht und arbeiten geht und abends wieder nach Hause zu seiner Familie kommt.« Jenna sah ihm in die Augen. »Uns geht es ähnlich wie Ihnen. Wir befinden uns plötzlich in einer neuen Welt und haben keine Ahnung, was uns hinter der nächsten Ecke erwartet. Wir sollten uns gegenseitig Zeit geben. Ich bin sicher, Sie und Kim und ich werden noch oft und lange miteinander reden und uns gegenseitig unser Leben erzählen. Nur nicht heute Nacht. Und vermutlich morgen auch nicht. Lassen Sie uns das überleben, helfen Sie uns. Machen wir einen Schritt nach dem anderen.«
Lagardère sah plötzlich beschämt aus. Er legte eine Hand über die ihre und drückte sie leicht. »Sie haben recht, Jenna. Es tut mir leid. Ich sollte es wohl nicht so persönlich nehmen.«
»Hm … ich würde eher sagen, Sie sollten es persönlich nehmen, dass ich Sie geholt habe. Ihnen fällt in diesem Stück eine ganz wichtige Rolle zu. Die Frage ist, welche. Wenn Sie mich fragen, sind Sie hier, um mir mit dem Jäger zu helfen. Das wäre Gerechtigkeit, oder nicht? Ein Schatten, um mich zu töten, ein Schatten, der mir zur Seite steht.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn das nicht pathetisch klingt.«
»Das tut es«, gab Lagardère zu, und ein Grinsen huschte über sein Gesicht, »aber nichtsdestotrotz haben Sie vielleicht recht damit, ma chère Jenna.«
»Sie sind noch jung, Antoine. Und das meine ich auch so. Sie werden Zeit brauchen, um hier wirklich anzukommen. Sie werden kein Schatten bleiben.« Jenna nahm ihn an der Hand und zog ihn vom Barhocker. »Gehen wir schlafen. Wenigstens noch zwei Stunden. Dann sehen wir weiter.«
Matthew Johnson starrte fassungslos auf den Fernseher. Die albtraumhaften Bilder aus dem Londoner Krankenhaus verursachten ihm Übelkeit. Der Mann, der neben ihm in einem Sessel saß, die Beine übereinandergeschlagen, lächelte dünn. »Ich habe noch einen letzten Auftrag für dich.«
»Das waren Sie …«,
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