Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
überraschend schwach besucht gewesen, damit hatten Alex und Kim fast den gesamten Raum für sich gehabt. Sie hatte mehrere Anläufe genommen, Andeutungen gemacht – doch es laut auszusprechen, nein, das ging beim besten Willen nicht. Es war einfach zu verrückt. Und so hatte Alex den ganzen Abend lang eine lustige Chirurgen-Anekdote nach der anderen erzählt und beim Dessert darüber spekuliert, was Kim studieren würde, wenn sie endlich ihr Abitur in der Tasche hätte. Seine Worte waren an ihr vorbeigerauscht wie ein Wasserfall im Hochgebirge.
Irgendwann hatte Kim gemerkt, wie der Druck auf ihre Schläfen stärker wurde, war verstummt und in ein Schweigen versunken, das Alex, angenehm überrascht von seiner Tochter, als Zuhören interpretiert hatte.
Kim hatte abgeschaltet, an ihrem Glas Rotwein genippt und innerlich verzweifelt den Kopf geschüttelt. Es war zum Heulen. Ihre Eltern warfen ihr abwechselnd vor, nicht zuzuhören – doch genau genommen verhielt es sich gerade umgekehrt.
Niemand hörte Kim zu. Sie war allein.
Das Kratzen der Kreide auf der Tafel holte Kim in die Gegenwart zurück. Sie schob die Gedanken an den gestrigen Abend beiseite und warf einen weiteren Blick auf Simones Zettel, den inzwischen ein kleines Herzchen zierte. Sie drehte sich leicht nach links und musterte unauffällig den männlichen Neuzugang, Matthew, der das zweite Schulhalbjahr in ihrer Klasse verbringen würde. Heute war sein dritter Tag. Schon in der Früh war Simone beim ersten Blickkontakt mit ihm rot ge worden und hatte sich prompt darüber geärgert. Der amerikanische Austauschschüler der Sorte groß, dunkelblond und durchtrainiert war genau das, wovon die kleine Simone mit ihren kurzen roten Haaren träumte …
In diesem Moment wandte Matthew den Kopf und sah Kim direkt an. Er hatte die halblangen Haare am Hinterkopf lässig mit einem Gummi zusammengebunden, mit seiner leicht gebräunten Haut stach er unter all den blassen Schülern hervor. Er zwinkerte ihr zu. Kim blinzelte ertappt, dann fuhr sie zusammen, als sie ihren Namen hörte.
»Kim, kommen Sie doch bitte nach vorne an die Tafel und erklären Sie die erste und zweite Ableitung dieser e-Funktion«, forderte Dr. Berger sie maliziös auf.
Mochte Kim auch derzeit ausgesprochen ungern lernen und eine Bioklausur nach der anderen verhauen – in Mathematik war sie nicht so leicht zu schlagen. Hatte man das Prinzip der Ableitung einmal verstanden, war es nur eine Frage des Rechenwegs. Sie ging zur Tafel, begann mit der Aufgabe, füllte auf der Tafel jeden verfügbaren Platz und kehrte zu ihrem Platz zurück. Matthew grinste, als Kim zu ihrem Tisch zurückging. Er hob die Hand an die Schläfe und deutete respektvoll einen Salut an.
Kim drehte ihren Stuhl um, setzte sich rittlings darauf, legte die Arme auf die Lehne und fixierte ihre Lehrerin. »Gut so?«, fragte sie der Form halber. Frau Berger warf einen irritierten Blick in ihre Richtung und deutete lediglich ein Nicken an, doch niemand in der Klasse schien die unterschwellige Spannung zwischen den beiden zu bemerken. Lediglich Simone schaute ihre Freundin stirnrunzelnd an, als wollte sie sagen: »Was bitte läuft da zwischen euch ab?«
Dr. Berger rief den nächsten Schüler an die Tafel, und Kim schaute unauffällig auf ihr Handy. Genial, dachte sie, bis zur Pause waren es nur noch ein paar Minuten, und danach winkte eine Freistunde. Neben der Schule befand sich ein kleines Café, das fast ausschließlich von der Cappuccino-Sucht der Oberstufe lebte.
Dr. Berger schickte ihr letztes Opfer mit einem bösen Kommentar zurück an seinen Platz und drohte am Schluss noch mit einem Test in der kommenden Woche. Kollektives Seufzen war die Antwort, die Berger-Tests waren quer durch alle Jahrgangsstufen gefürchtet.
»Kommst du mit ins Café?«, fragte Simone sofort, als es klingelte. Die meisten Schüler stürmten hinaus, froh, dem ungeliebten Fach entronnen zu sein.
»Klar!« Kim packte ihre Sachen zusammen und riskierte einen weiteren Blick Richtung Matthew, der sitzen blieb und interessiert das Treiben um sich herum betrachtete.
Er fing ihren Blick auf und zog die Augenbrauen hoch. »Was machst du jetzt?«, fragte er höflich, sein Akzent war kaum hörbar. »Freistunde, nicht?«
»Café«, erwiderte Kim kurz angebunden. Vielleicht tat sie ihm unrecht, aber sie war wirklich nicht in der Stimmung für höfliche Konversation. Nicht einmal mit einem attraktiven amerikanischen Austauschschüler.
Simone sprang in
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