Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
keine Option.
5
Donnerstag, 9. Februar
Die 737 der British Airways hob mit lautem Dröhnen ab, und Jenna wurde in den Sitz gedrückt. Die Stadt lag unter ihnen in der Nachmittagssonne, und während der Pilot noch eine große Schleife flog, bevor er seinen Kurs in Richtung Nordwesten beginnen konnte, sah man weit hinten noch schemenhaft die Alpen. Wie im Bilderbuch, dachte Jenna. Von hier oben sieht alles so harmlos aus, so weit entfernt, wie auf einem anderen Planeten. Am besten wir kommen gar nicht mehr herunter. Wir warten einfach, bis alles vorbei ist und wir aufwachen und unser Leben wieder normal weiterleben können …
Erneut kamen die Tränen hoch, die sie gewaltsam hinunterschluckte.
Gestern hatte sie mit Rainer und Klaus gesprochen, um ein paar Tage Urlaub gebeten. Trotz der prekären Lage, in der sich die Agentur wegen Rainers Zustand befand, hatte sie eine Zusage bekommen. Rainer war nach seiner Rückkehr aus dem Spital zumindest geistig einsatzfähig, und eine Woche ohne Jenna würden die beiden Chefs gerade so überstehen. »Muss ich mir meinen Tee eben wieder selbst kochen«, hatte sich Rainer pro forma beschwert und ihr für die Mutter-Tochter-Auszeit, wie er es nannte, gute Nerven gewünscht. Wenn der wüsste, dachte Jenna jetzt, fuhr sich mit dem Ärmel unauffällig übers Gesicht und blickte sorgenvoll hinüber zu Kim.
Die schaute mit großen Augen um sich und ließ – das konnten wohl nur Teenager – Angst und Aufregung der vergangenen Stunden erst einmal hinter sich. Sie, die in ihrem Leben bisher nur einmal geflogen war, genoss nun sichtlich den Flug. Die Stirn gegen die Scheibe gepresst, versuchte sie zu erkennen, was sich unter ihnen befand.
Die letzten vierundzwanzig Stunden waren wie im Zeitraffer vergangen. Jenna hatte Kim wie angedroht zum Arzt geschleppt, und der hatte Kim glücklicherweise bescheinigt, bei bester Gesundheit zu sein. Beide, Mutter und Tochter, waren erleichtert. Kim war sich schließlich nicht sicher, wie lange sie ohnmächtig gewesen war und welche Folgen das Ritual, obwohl sie es mit keinem Wort erwähnte, möglicherweise auf ihren Organismus gehabt hatte.
Im Laufe des heutigen Tages hatte Kim zwei Rückrufbitten von Matthew erhalten und sie ignoriert. Jenna war neben ihr gestanden, die Hand auf ihrer Schulter, und hatte gewartet, bis die Nachrichten gelöscht waren. Sie verstand noch nicht, welche Rolle er in diesem tödlichen Spiel spielte. Steckte er womöglich hinter allem? Oder war er nur ein Handlanger, ein Spielball, genau wie sie? Irgendwann würde sie mit ihm reden müssen. Nur jetzt noch nicht. Dafür dachte sie umso mehr über ihre Mutter nach. Sie wurde aus Jenna derzeit nicht klug. Diese, sichtlich gezeichnet vom Terror der letzten Tage, kreischte nicht herum, drohte nicht mit Hausarrest, sondern nahm Kim ernst. Sie war halbwegs gefasst, agierte pragmatisch und schien die wahnwitzige Möglichkeit, dass sie beide aus dem Jenseits kontaktiert worden waren, tatsächlich in Erwägung zu ziehen. Dass sich Kim noch nicht schreiend in die Isar gestürzt hatte, war genau dieser Haltung von Jenna zu verdanken. Kim wusste zwar nicht genau, was ihre Mutter vorhatte, doch in solchen Momenten wuchs ihre Bewunderung.
Gemeinsam würden sie überleben. Irgendwie.
Unter ihnen war jetzt nichts mehr zu erkennen, das Flugzeug hatte die Wolkendecke durchstoßen und glitt ins hellblaue Nichts. Kim löste ihre Stirn von der Scheibe, lehnte sich zurück und griff nach der Security-Karte, die vor ihr in der Sitztasche steckte.
Jenna blätterte neugierig in dem Buch, das ihr in Nicholas und Annes Wohnung quasi vor die Füße gefallen war. Hier und da überflog sie einen Absatz, las ein paar Sätze, versuchte Zusammenhänge herzustellen. Es handelte sich um einen kleinen Ratgeber für Frauen, die es damals, um die Jahrhundertwende, wagten, alleine zu reisen. Doch da war nichts, kein Gefühl, einen Hinweis zu erhalten. Hatte sie sich doch getäuscht? Die Stewardess kam, brachte mit einem unverbindlichen Lächeln ein paar Nüsse. Jenna überraschte sich dabei, sie zu beneiden. Dann blätterte sie weiter. Auf Seite 76 stutzte sie. Ein Gesicht blickte sie an, graue, kluge Augen, feine Züge, langes Haar, in einen Zopf geflochten. Selbst diese alte Schwarz-Weiß-Aufnahme strahlte eine unglaubliche Kraft aus. Jenna betrachtete das Bild genauer. Ihr Blick rührte sie an, brachte etwas in ihr zum Schwingen. Der Spieleabend bei Anne und Nick, dachte sie plötzlich. Die
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