Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
sie näher kamen, erkannte Mary eine Frau und einen Mann, in Braun gekleidet und möglicherweise aus demselben Volk wie Sinya. Sie lächelten Mary an, verneigten sich kurz und winkten ihr dann, ihnen zu folgen.
Mary war zu müde, um Fragen zu stellen. Sie raffte sich auf und merkte, dass es keinen Muskel in ihrem Körper gab, der nicht schmerzte. Diesmal allerdings war der Weg nicht weit. Bereits nach wenigen Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht. Etwa ein Dutzend Frauen saßen auf Bastmatten im Kreis im Schatten eines Felsüberhangs. Mary hörte ein leises Raunen, als sie die Fremde sahen.
Sinya nahm Mary an der Hand, zog sie hinter sich her und wies auf eine große, schlanke Frau, vor der sie sich verbeugte. Dann legte sie Marys Hand in die Hand der Frau, zwinkerte ihr kurz zu und kehrte zum Rest der Gruppe zurück.
Mary schwankte. Ihr war schwindlig, sie war durstig und zu Tode erschöpft.
»Wasser?«, fragte sie deshalb heiser und sah die schlanke Frau hoffnungsvoll an.
Ihr Gegenüber nickte. »Natürlich«, sagte sie wie selbstverständlich und reichte Mary einen Lederbeutel. »Willkommen zu Hause, Schwester. Ich bin Neela. Wir sind froh, dass du den Weg zu uns gefunden hast.«
Die hochgewachsene Fremde sprach ein reines, einwandfreies Englisch, nur ein leichter Akzent ließ erkennen, dass es nicht ihre Muttersprache war. Die Frau, deren schwarzes langes Haar in unzählige kleine Zöpfe geflochten war, mochte um die fünfzig Jahre alt sein. Ihre Haut schimmerte mehr bronzen als braun. Sie war ganz eindeutig nicht von hier. Mary tippte auf Nordafrika. Sie besaß die majestätische Haltung, die sie auf Bildern von den Tuareg gesehen hatte.
Mary setzte den Wasserbeutel ab und riss erstaunt die Augen auf. »Sie verstehen mich?«, fragte sie und war sich zugleich bewusst, wie dumm ihre Frage gewesen war.
Neela nickte gelassen. »Einige von uns sprechen Englisch, nur Sinya nicht. Sie jedoch war die Einzige, der wir zutrauen konnten, dich zu finden und hierher zu bringen.« Mit einer einladenden Geste wies sie auf den Boden. »Bitte setz dich. Wir werden gerne alle deine Fragen beantworten, doch alles zu seiner Zeit. Zuallererst ruh dich aus. Du hast einen langen Weg hinter und einen noch längeren vor dir.«
Mary ließ sich ermattet auf ihren zugewiesenen Platz sinken und schaute mit großen Augen um sich. Sie hätte der Erschöpfung am liebsten nachgegeben, die Müdigkeit klopfte beharrlich an ihre Schläfen, doch die Forscherin in ihr gewann die Oberhand.
»Weshalb bin ich hier?«
»Die schwierigste Frage zuerst«, lächelte Neela und ließ sich neben ihr nieder. Die anderen Frauen im Kreis schauten Mary neugierig, aber mit warmen Blicken an. Sie war hier ehrlich willkommen, das spürte sie.
Eine der Frauen brachte einen Korb mit Früchten und eine volle Schale mit Speisen, die sie vor Mary auf den Boden stellte. Der kühle Wind und der Schatten der Felsen kamen der Forscherin wie das Paradies vor. Sie stürzte sich auf die Früchte, kostete von den gefüllten Fladen und spülte alles mit kaltem Quellwasser hinunter. Befriedigt spürte sie, wie ihre Lebens geister rasch wieder zurückkehrten. Schließlich schluckte sie den letzten Bissen herunter, blickte in die Runde und wandte sich an Neela. »Kommen wir jetzt zu den Antworten?«, fragte sie hoffnungsvoll und zog ihren verfilzten Zopf nach vorn.
In Neelas Lächeln lag Bewunderung. »Wir haben dich gerufen, weil du bereit warst«, begann sie ohne weitere Vorrede. »Wir sind viele – und doch wenige.« Sie wies auf die anderen Frauen. »Sieh dich um. Wir sind einer der Zirkel, um die Eine zu schützen. Um Ihr zu helfen und Sie vor dem Bösen zu bewahren.«
»Die Eine?«, fragte Mary verwirrt. »Diesen Begriff hat Lord Covington auch verwendet. Wer ist die Eine? Was ist sie?«
»Die Eine hat die Macht, das Tor zu öffnen. Oder es zu schließen. Wir nennen sie die Hüterin. Denn die Schatten ruhen nicht. Sie sind immer auf dem Sprung, wie ein Leopard auf der Jagd.« Neela klang, als hätte sie diese Worte schon oft gesprochen, und doch trafen sie Mary direkt ins Herz.
»Die Schatten …«, wiederholte sie nachdenklich. »Ich glaube, ich habe auf dieser Reise schon einen kleinen Vorgeschmack von ihnen erhalten.« Sie blickte sich um, sah über die weite Ebene, die sich unter ihr erstreckte. Weit hinten am Horizont konnte sie den Fluss sehen, ein silbernes, gewundenes Band. Gleichzeitig war sie wieder auf dem Schiff, fühlte die namenlose Angst und
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