Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
für sinnvoll.
»Das ist vielleicht keine so schlechte Idee«, sagte er überraschend, und Jenna glaubte, sich verhört zu haben.
»Du hast nichts dagegen?«, fragte sie etwas perplex nach.
Alex schnaufte hörbar. »Auf eine Woche mehr oder weniger Schule kommt es bei Kim jetzt wahrscheinlich auch nicht mehr an. Ein Tapetenwechsel nach all der Aufregung tut euch möglicherweise gut. Habt ihr beide gültige Pässe? Wann wollt ihr los?«
»Wir brauchen doch nur die Personalausweise, Alex. Und sobald wir einen bezahlbaren Flug kriegen«, erklärte Jenna und durchwühlte nebenher sämtliche Schubladen nach einem London-Stadtplan, von dem sie wusste, dass sie ihn irgendwo hatte. »Keine Sorge, ich passe schon auf unser Mädchen auf.«
»Das weiß ich«, sagte Alex, und Jenna wusste, dass er es aufrichtig meinte. »Kommt heil an und melde dich von London aus.«
Jenna versprach es. Ihr war flau im Magen, und sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Alex nur die halbe Wahrheit erzählt hatte. Aber was war schon in diesem Fall die Wahrheit? Kim hatte irgendwie recht, nicht mit vielen Eltern konnte man über so etwas reden.
Besser mit keinen.
Die Uhr der Ludwigskirche schlug elf, und die melodiösen Glockentöne hallten durch die Nacht. Nur noch vereinzelt rollten Autos langsam durch die Straße, die die Alte von der Neuen Pinakothek trennte. Bis auf den Wind, der fast lautlos den letzten Schnee von den Bäumen schüttelte, war es still.
Die Gänge der Alten Pinakothek lagen im Dunkeln, nur die grünen Lichter der Notbeleuchtung mit dem »Ausgang« – Zeichen schimmerten beruhigend. Ein einsamer Wachmann drehte zu jeder vollen Stunde seine übliche Runde. Seine Schritte hallten durch die Säle und Gänge, während er gähnend auf seine Uhr schaute. Die Eintragung am Ende der letzten Rundgänge hatten gelautet: »Keine besonderen Vorkommnisse«.
Alles war wie immer. Jedoch nur auf den ersten Blick.
In der Alten Pinakothek war der Tod zu Besuch. Er war lautlos gekommen, und er würde genauso lautlos wieder verschwinden. Ungesehen, unbemerkt.
Unerklärlich.
Zwei Männer spazierten langsam durch die oberen Räume, wie Flaneure auf der Suche nach kulturellen Leckerbissen. Der jüngere trug Jeans und eine schwarze Lederjacke, seine Sportschuhe quietschten leise auf dem Parkett. Er hielt ein Smartphone in der Hand, seine Augen irrten etwas unsicher zwischen den Gemälden und seinem Begleiter hin und her.
Der zweite Mann war älter, etwas größer, um die vierzig Jahre, trug einen eleganten Anzug mit Weste und Clubkrawatte, darüber einen schwarzen Mantel. Unentwegt klopfte er mit einem Paar Nappaleder-Handschuhen auf die Handfläche der linken Hand, während er interessiert die Bilder betrachtete. Und doch … Der Schein des weltgewandten Gentlemans trog. Er war jemand, den man nach dem ersten Anblick nicht so leicht wieder vergaß.
Der Mann im Anzug bewegte sich mit der lautlosen Eleganz eines Jägers. Als er unter einer der Notbeleuchtungen hindurchging, konnte sein junger Begleiter die Narbe erkennen, die sich über eine gesamte Gesichtshälfte zog, ihn jedoch nicht wirklich entstellte. Und dann waren da noch seine Augen – blaugrün schimmernd, wie ein Bergsee.
Eiskalt, abgrundtief und tödlich.
Ein oberflächlicher Beobachter hätte in den beiden Män nern vielleicht einen Lehrer und seinen Schüler vermutet, doch wer genau hinsah, erkannte, dass es sich genau andersherum verhielt: Der jüngere Mann dozierte, der ältere hörte zu. Dabei schlenderten sie durch die Gänge der geschlossenen Alten Pina kothek, als sei es die natürlichste Sache der Welt.
Der elegante Mann nickte hin und wieder, manchmal schüttelte er verwundert den Kopf. Der Hexenjäger von Augsburg musste sich daran gewöhnen, dass er in eine vollkommen neue Welt zurückgekehrt war.
Begonnen hatten sie im Westteil des Museums, bei Dürer und Cranach, vor zwei Stunden. »Ach, der Meister Dürer …«, hatte von Keysern gemurmelt. »Kennt man ihn noch? Wer hätte das gedacht …«
Während sein Begleiter versuchte, so viel nützliche Information wie möglich so kompakt wie möglich zu vermitteln, war von Keysern an den meisten italienischen Meistern achtlos vorbeigegangen. Doch mit einem Mal blieb er vor dem Porträt einer brünetten Schönheit von Tizian stehen. Die bloßen Schultern der Frau schimmerten alabasterweiß, sie blickte dem Betrachter gleichmütig entgegen. Von Keysern sog scharf die Luft ein und beugte sich so weit vor,
Weitere Kostenlose Bücher