Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
Spielkarte … Es waren die gleichen braunen Augen … das gleiche Gefühl …
Mary Kingsley, lautete die Bildunterschrift, englische Forscherin im Dienste des British Museum.
Jenna las den Aufsatz genauer. Kingsley hatte ein ungewöhn liches Leben geführt, die Feldforschungen ihres Vaters in Afrika fortgesetzt und war dann, während einer Expedition 1895, in der Wildnis Gabuns spurlos verschwunden. Einige Jahre später, so hieß es, habe man sie in Südafrika gesehen, während der Burenkämpfe, doch die Autorin legte das unter »bloße Spekulation« ab. Sicher war sie sich nicht, verbürgt war ihr Tod ebenfalls nicht. Niemand aus der Alten Welt hatte je wieder mit ihr gesprochen. Es war, als hätte der Erdboden sie verschluckt. Afrika war groß, überall lauerten unzählige Gefahren. Und es war alles so lange her …
Jenna seufzte. Sie blätterte weiter, aber der Blick aus diesen grauen Augen ließ sie nicht los, vermittelte ihr ein Gefühl der Vertrautheit, das den ganzen Flug über blieb. Eine junge Frau, die im Herzen Afrikas verschwunden war. Hatte ihr Mut sie das Leben gekostet, rätselte Jenna. Was ging sie diese Frau an? Jenna legte den Kopf nach hinten und schloss die Augen. Mit der Wucht einer Atombombe hatte plötzlich etwas Schreck liches, Übernatürliches die Kontrolle über ihr Leben übernommen. Das Buch hatte sich ihr mehr oder weniger angeboten, so kam es ihr zumindest vor, und obwohl alles in ihr Alarm schlug, konnte sie sich der seltsamen Stimmung, die sie angesichts des Bildes ergriff, nicht entziehen. Im Gegensatz zu ihren Träumen machte der Blick der jungen Forscherin ihr keine Angst.
Gabun, 1895
Ob Lord Covington das wohl gemeint hatte, als er sagte, einen Teil der Geschichte müsse sie sich verdienen? Mary war sich nicht sicher.
Seit einer Ewigkeit lief sie nun hinter der schwarzen Frau her, immer nach Norden, erst über spitzes, rutschiges Geröll, einen Grat nach dem anderen bezwingend. Dann durch den Urwald, wo das Vorankommen noch schwieriger war. Doch die Eingeborene ließ sich nicht beirren. Wie mit einem inneren Kompass versehen, ging die Frau vor ihr ihren Weg, nicht ein Mal zögerte sie, kein einziges Mal musste sie sich orientieren.
Der Durst war das Schlimmste. Alle paar Stunden gab es zwar einen Schluck Wasser, aber das war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, der buchstäblich in Marys Kehle steckte.
Als sie dachte, sie könnte keinen Schritt mehr laufen, hielt die Frau plötzlich an. Sie standen auf einer kleinen Lichtung, und die Führerin legte die Hände zusammen, hielt sie neben ihre Wange und deutete damit ein Kissen an.
Schlafen, interpretierte Mary hoffnungsvoll! Sie nickte müde und ließ sich auf den Boden sinken.
Ihre Begleiterin – sie hieß Sinya, so viel hatte Mary herausgefunden – entfachte ein kleines Feuer, zog aus ihrer Tasche ein paar Teigfladen und briet sie auf heißen Steinen. Mary beobachtete sie neugierig. Sie hatte während der Wanderung mehrfach versucht, mit der geheimnisvollen Frau zu sprechen, doch ohne Erfolg. Auch jetzt schwieg sie, hielt Mary nur auffordernd einen Fladen und einen Lederbeutel mit Wasser, das mittlerweile leicht brackig schmeckte, hin. Mary dankte ihr mit einem Kopfnicken und biss in den heißen Fladen, der zu ihrem Erstaunen wunderbar nach Kümmel und anderen fremdartigen Gewürzen schmeckte. Nach dem Essen ließ sie sich auf den Rücken sinken, zog ihr Plaid über sich und schaute in den Himmel.
Die Nacht war hereingebrochen, und das afrikanische Firmament erstreckte sich in seiner ganzen Pracht über ihr. Kein Dunst, kein Licht störte das Funkeln der Sterne. Seit Tausenden von Jahren leuchteten sie über den Menschen, leiteten sie, wiesen einen Blick in die Zukunft und waren neben den Heiligen die Götter des Himmels. Die Sterne wussten so viel, konnten sie nicht ein kleines bisschen ihrer Weisheit abgeben? Mit diesem Gedanken schlief Mary ein.
Mitten in der Nacht erwachte sie mit einem Ruck, setzte sich auf und rieb sich die Augen. Irgendetwas hatte ihren Traum gestört. Ein Laut, ein Misston? Auch Sinya hatte sich aufgerichtet und sah sich wachsam nach allen Seiten um. Dann, mit einem Mal, verschwanden alle Sterne, und wie schon einige Wochen zuvor auf der Batanga umhüllte sie plötzlich undurchdringliche Schwärze.
»Niemand entkommt mir. Sie nicht – und du nicht. Vergiss das nie!«
In Marys Kopf hallten die Worte wider, laut und schmerzhaft, sie presste die Hände auf die Ohren, doch
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