Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
und ihre Expeditionsleiterin verloren.
Als das Schiff am späten Nachmittag aus dem Hafen segelte, blickte Reverend James Shaughnessy, seit einem halben Jahr der Leiter dieser Expedition für das Britische Museum, auf Port Gentil zurück. Die weiß gekalkten Häuser glänzten rosa im letzten Licht der untergehenden Sonne. In Gedanken formulierte der Reverend bereits seinen Bericht an Lord Covington. Darin würde er diplomatisch darlegen müssen, dass Miss Kings ley der Wildnis zum Opfer gefallen war, was in seinen Augen kein sonderlicher Verlust war. Ihr unerklärliches Verschwinden bestätigte lediglich, was er ohnehin immer vermutet hatte: Frauen waren für Abenteuer und Expeditionen einfach nicht geschaffen.
Eine einzige Gestalt war am Kai zurückgeblieben und starrte noch lange dem imposanten Segelschiff mit der englischen Flagge am Heck hinterher. Der junge Führer Sayid ließ die Brigg nicht aus den Augen, bis sie nur noch ein kleiner Punkt am Horizont war. Die Nacht kam von Osten herein, während im Westen der Horizont aus Feuer zu bestehen schien. Sayid seufzte leise und wandte sich zum Gehen. Wie erwartet, war die schöne weiße Frau nicht wiedergekommen. Sie war in die schwarzen Berge gegangen und dort den Geistern in die Fänge geraten.
Wie bereits seine Cousine Sinya ein paar Jahre zuvor …
Seltsam. Er verspürte keine Trauer, wenn er an Sinya dachte. Als sei sie stets in seiner Nähe, nur kurz zur Wasserstelle fortgegangen.
Doch was wusste Sayid schon über die Geister?
So bemerkte er auch nicht den kleinen Windhauch, der hinter ihm in einem fast lautlosen Wirbel Papierfetzen und Staub vom Kai hoch in die Luft wehte. Einige der kleinen Papierstückchen fielen aufs Wasser und trieben noch lange in der sanften Dünung. Sie sahen aus wie Teile einer zerrissenen, vergilbten Fotografie.
Das Bild einer Frau mit einem langen Zopf.
Donnerstag, 9. Februar
Die Zollformalitäten waren schnell erledigt. Jenna sah sich im mer wieder um, während sie durch den Flughafen Heathrow liefen, doch niemand interessierte sich für sie, keiner hielt sie auf.
»Warte, ich kaufe uns vorsichtshalber gleich ein Wochenticket«, sagte sie und nutzte die Gelegenheit, dass am Schalter der U-Bahn im Terminal 5 gerade niemand stand. Zwei Minuten später kam sie mit einem Stadtplan und zwei Karten in der Hand zu Kim zurück, die mit den Koffern gewartet hatte. Jenna zog ihre Tochter zur Rolltreppe. »Am besten, wir fahren erst mal ins Hotel, stellen unsere Sachen ab und machen uns frisch. Danach steht die Klinik auf dem Programm, und dann sehen wir weiter.« Sie tippte eine kurze SMS an Nicholas, dann fuhr auch schon der Zug der Picadilly-Line Richtung Londoner Innenstadt ein.
»Was stand denn eigentlich in dem alten Buch?«, fragte Kim, während die Bahn unter dem Flughafen ihre kilometerlange Schleife zog. Der Waggon, in dem sie saßen, war fast leer. »Hast du was gefunden?«
»Ich bin mir nicht sicher«, Jenna zuckte die Schultern. »Das ist ein Ratgeber aus der Jahrhundertwende. Die einzige Geschichte, die mich darin irgendwie angesprochen hat, ist die von einer englischen Forscherin«, meinte sie nachdenklich. »Die ist während einer Afrika-Expedition, die sie leitete, spurlos verschwunden. In dem Buch ist auch ein Foto von ihr … und …« Jenna brach ab und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Sie war müde und ausgelaugt. Jedes Mal, wenn sie über ihre Schulter schaute, erwartete sie, die nächste Katastrophe hereinbrechen zu sehen. »Klingt es verrückt, wenn ich sage, dass ich den Eindruck habe, sie will mir etwas mitteilen?«
Ihre Tochter schaute sie verständnislos an, und irgendwie konnte sie es Kim nicht verdenken. »Aber das ist leider auch schon alles«, winkte sie ab. »Du kannst ja heute Abend mal reinlesen. Vielleicht fällt dir noch etwas anderes auf.«
Kim schaute ratlos und wenig begeistert drein. »Bettlektüre?« Ihr Enthusiasmus hielt sich in Grenzen. Kim besaß zwar eine Menge Bücher, aber eine Leseratte konnte man sie beim besten Willen nicht nennen. Und Einschlaflektüre war so gar nicht ihr Ding …
»Immer noch besser als Fernsehen«, konterte Jenna entschieden. »Zumal englisches Fernsehen …«
»Oh«, machte Kim entzückt und vergaß für einen Moment völlig, warum sie eigentlich hier waren. »Englische Serien – awesome!« Letzteres war ihr derzeitiges englisches Lieblingswort.
Jenna beließ es dabei, eine Augenbraue hochzuziehen.
Eine knappe Stunde später standen sie
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