Das Wispern der Schatten - Roman
nicht einmal Pinienkerne ab.«
» Die Erlöser werden mich nähren, du schwatzhafter Heide!«
Der heilige Azual wartete in der Dunkelheit des imposanten Bauwerks, das als Tempel von Erlöserparadies diente. Dieses Gebäude war nicht weniger zugig, feucht oder unbequem als die Tempel seiner anderen Gemeinden, aber hier, abseits des Getriebes auf dem Marktplatz, an dem der Tempel lag, herrschte ein Gefühl der stillen Ehrfurcht, während es in den anderen Bethäusern nur Schweigen und Leere gab. Hier hatte er, wenn er meditierte, den Eindruck, den gewaltigen, alles überragenden Intellekt der Erlöser spüren zu können. Hier war er nahe daran, mit ihnen in Verbindung zu treten und einer von ihnen zu werden. Wie passend, dass seine Verfolgung des Jungen hier enden und er, Azual, endlich die Macht erringen würde, die er benötigte, um aufzusteigen!
Sein Auge öffnete sich und erhellte die Dunkelheit. Sie hatten ihn! Der Heilige sprang auf und war jetzt ganz schwungvolle Tatkraft und Stärke. Der Augenblick, den er herbeigesehnt hatte, war gekommen.
Er verließ den Tempel rasch und stieß seine Wachen beiseite, während er sich zielstrebig einen Weg durch die Stadt bahnte. Das Volk huschte beiseite, während er dahineilte und es mit seinen Gedanken drängte, sich ihm aus dem Weg zu werfen. Ein kleines Kind befand sich plötzlich direkt vor ihm. Es war zu jung, um schon zu den Erlösern gezogen worden zu sein, war deshalb mit seinem Herrscher noch nicht verbunden und wusste nichts von dem stummen Befehl an das Volk. Es saß, die kleinen Ärmchen hochgereckt, da und schrie nach seiner Mutter. Azual schenkte dem schmutzigen Gör kaum Beachtung– er würde deshalb sicher nicht seine Laufrichtung ändern. Er sauste vorbei, und sein Absatz ritzte dem Kind die Schläfe auf. Es brüllte, während er es hinter sich zurückließ.
Meine Berührung hat es gesegnet!, erklärte sein Verstand den Leuten in der Umgebung.
» Hab Dank, Heiliger!«, rief eine Frau.
Azual stürmte durch die Stadt. Ein verwirrter Betrunkener konnte nicht rechtzeitig ausweichen und wurde von anderen Menschen zu Boden gerissen, die hastig aus dem Weg eilten.
» Vergib mir!«, lallte der alte Narr von dort, wo er lag. Azuals Fuß stampfte dem Mann auf die Kehle und zerquetschte ihm die Luftröhre. Der Heilige zog weiter. Die Leute, die in der Nähe standen, nickten und sprachen Dankgebete für das Exempel, das der Heilige statuiert hatte.
Er warf einen Wagen um, der ihm im Weg stand, und beachtete das entsetzte Wiehern des Pferdes nicht, das mit umgerissen worden war und sich in seinem Geschirr verheddert hatte. Er polterte durch den Stand eines Töpfers und gelangte in die Straße, die zu den Bestrafungskammern neben den Baracken der städtischen Helden führte. Binnen weniger Sekunden hatte er den kleinen, steingepflasterten Platz überquert, auf dem der Pranger und der Galgen der Stadt aufgebaut waren, und stieg die Stufen in den Fels unter Erlöserparadies hinab. Hauptmann Skathis erwartete ihn bereits. Der Offizier gab einem Soldaten einen Wink, eine Zelle aufzuschließen, und verneigte sich, als der Heilige wortlos an ihm vorbeiging.
Azual zog den Kopf ein und betrat die kleine, kahle Zelle. Der blonde Junge, der ein solches Katz-und-Maus-Spiel mit ihnen getrieben hatte, hing mit Handschellen gefesselt an den Armen von der Wand. Das Licht war schlecht, denn nur eine qualmende Fackel vor der Zelle gestattete es überhaupt, etwas zu sehen.
» Nehmt ihm den Knebel ab.«
Hauptmann Skathis beeilte sich, dem Befehl zu gehorchen. Der Junge hustete, rang nach Luft und übergab sich dann auf seine Kleider und die Füße des Heiligen.
Der Heilige richtete langsam den Unheil verkündenden Blick seines einen Auges auf den Hauptmann. » Das ist er nicht«, sagte er zornig.
Der Hauptmann war klug genug, gar nicht erst zu versuchen, eine Entschuldigung vorzubringen. Er senkte Kopf und Blick und war bereit, den Todesstoß hinzunehmen, den er für sein Versagen verdient hatte. Das Schweigen zog sich in die Länge.
» Das ist nicht das Gesicht, das seine Eltern vor ihrem inneren Auge sehen. Der hier ist älter als der, den wir suchen, älter als Jillan oder Irkarl, wie er sich nennt. Aber hier stimmt etwas nicht. Der hier ist noch nicht zu den Erlösern gezogen worden. Wie ist das bei jemandem seines Alters möglich? Wer bist du?« Der Heilige packte den Jungen am Kinn. » Antworte mir!«
Der Junge hustete; Speichelfäden hingen ihm aus dem Mund. »
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