Das Wispern der Schatten - Roman
wahr. Es handelte sich nicht um das Vibrieren, das dem Fels selbst von Natur aus zu eigen war; er trug vielmehr die Lautäußerungen und Bewegungen von etwas weiter, das tief unter ihr in der Falle saß. In der Falle? Was brachte sie auf den Gedanken, dass der Ausgangspunkt der Vibrationen in der Falle saß? Sie wagte sich näher heran. Schreie. Schrill und unangenehm, dann tief und animalisch. Was für ein Ungeheuer konnte solche Laute hervorbringen? Wie entsetzlich musste sein Leid sein?
Sie wusste, dass sie es gar nicht hätte beachten sollen, weil sie keine Zeit hatte, etwas anderes zu tun. Sie wollte Freund Anupal schließlich nicht enttäuschen. Sie hatte versprochen, mit ihm an den Ort zu reisen, an dem sie Gutes tun konnten, um gute Freunde zu gewinnen, und dieser Ort würde nur da sein, wenn sie ihn rechtzeitig erreichten. Aber sie brachte es einfach nicht übers Herz, den Schreienden– ob nun Ungeheuer oder nicht– in solcher Verzweiflung zurückzulassen. Sie würde sehen, was sie tun konnte, und die Zeit nachher aufholen, wenn nötig, indem sie Freund Anupal durch die Nacht trug, sodass er die Ruhe bekam, die er benötigte.
Als sie noch näher herankam, spürte sie eine unheimlichere Vibration unter den Schreien. Sonnenmetall! Der Schreiende saß in einem Würfel aus Sonnenmetall gefangen. Freda war entsetzt. Wer konnte so grausam sein, das einem anderen Lebewesen anzutun? Es war die schlimmste Folter überhaupt, eine ewige Herabwürdigung, ein Entzug des Daseins. Kein Wunder, dass das Geschöpf ständig schrie. Es musste von seiner Gefangenschaft in den Wahnsinn getrieben worden sein und sich nach dem Tod sehnen.
» Ich sehe dich!«, rief es widerhallend, tobte in dem Würfel herum und sprang an die Decke, bevor es sich in eine Ecke hockte. » Bist du gekommen, um mich zu verhöhnen? Gar schickt dich, nicht wahr? Aber was soll man schon von Gar vom Stillen Stein erwarten? Trägheit. Keinen Anstoß für kraftvolle Veränderungen. Keine Beschleunigung. Nichts! Was für ein Gott ist das?« Ein kurzes Zögern. » Aber was für Götter gibt es überhaupt noch? Keine. Lass mich allein! Du bekümmerst mich. Lass mich allein!«
Seine Forderung war so schrill, dass es schmerzte, ihr zu lauschen. Freda wich zurück und wusste ohnehin nicht, wie sie überhaupt helfen sollte. Sie war machtlos gegen das Sonnenmetall.
» Lass mich allein, lass mich allein, LASS MICH ALLEIN !«
Agonie. Die des Schreienden. Ihre eigene. Die des Steins. Ihr Verstand geriet durcheinander und zerbrach. Bruchstückhaftigkeit. Sie musste fliehen, bevor es sie ganz zerschmetterte. Sie spie Staub und Geröll aus, und der Fels um sie herum wurde zu einer Flutwelle. Sie rannte und schwamm und kämpfte sich nach oben, weigerte sich, sich davon in den bodenlosen Abgrund der Ewigkeit reißen zu lassen, wo die strafenden Niederen Herrscher das Weltenende erwarteten. Sie verhärtete sich, wurde fest, verwandelte sich in unbeweglichen Fels und stellte sich der reißenden Sturzflut entgegen. Sie würde sich davon nicht ertränken lassen.
Endlich begann die Flut abzuebben, als die Gedanken des Schreienden abschweiften und er sich wieder vergaß. Erschöpft hievte sie sich nach oben in Sicherheit und war dieses eine Mal froh über das Licht der Himmelshöhle auf ihrer Haut.
» Werft das Netz über sie!«, befahl eine dünne Stimme.
Sie sah verschwommen Rot und Gold, als ein spinnennetzfeines Gewebe aus Sonnenmetall über sie geworfen und zugezogen wurde. Es begann sich in sie hineinzufressen.
» Bitte nicht!«, flehte sie. » Ich habe nichts Böses getan!«
» Es steht dir nicht an, darüber zu urteilen«, widersprach die Stimme. » Ich bin hier die Autorität. Ich möchte wetten, dass du auch keine Papiere hast, oder? Wahrlich, dieses Reich würde völlig zusammenbrechen, wenn ich nicht hier wäre, um unberechtigtes Eindringen aufzudecken, die Scherben einzusammeln, wenn die ordnungsgemäßen Abläufe vernachlässigt worden sind, und so weiter. Es würde absolut keine Ordnung oder Organisation geben, wenn wir alle kommen und gehen würden, wie es uns gefällt. Es wäre das reine Chaos. Nichts würde je erledigt werden, nicht wahr? Ich frage dich noch einmal: Hast du Papiere?«
» Neeiin!«, stöhnte sie.
» Woher soll ich dann wissen, wer du bist? Woher soll ich wissen, ob du eine Bedrohung darstellst oder nicht? Schließlich bist du ziemlich seltsam und wirkst gefährlich. Wenn jemand Papiere braucht, dann eine wie du! Was soll ich also
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