Das Wispern der Schatten - Roman
bringen, wie ich es bei dem Einsturz getan habe. Wir können sofort aufbrechen.«
Norfred wirkte jetzt angespannt, als ob er verstimmt wäre. Mit leiser Stimme sagte er: » Ich… Das hier ist mein Zuhause, Freda. Ich bin hier geboren wie mein Vater vor mir.«
» Hast du Angst, Norfred?«, fragte sie verwirrt. Sie hatte gedacht, seinen Sohn zu sehen wäre ihm wichtiger als alles andere. Und sie wollte ihn doch nur glücklich machen.
» Freda, ich…« Er zögerte für eine ganze Weile. » Ich war noch nie oberhalb dieser Ebene oder gar ganz oben. Was du da vorschlägst, ist…« Er brach ab. » Ich bin auf dieser niedrigsten Ebene, weil hier mein Platz ist. Wenn ich lange und hart gearbeitet habe, werde ich aufsteigen. Sogar das steht nicht fest, weil ich schwach bin. Aber wir wissen nicht, was da oben ist.«
» Du bist schwach wegen der armseligen Nahrung, die du isst, und dein Sohn ist da oben.«
» Warte, Freda, warte. Wir sind glücklich hier. Du bist doch glücklich hier, nicht wahr?«
» Ja, Norfred. Ich bin glücklich, wenn ich bei dir bin. Du wärst aber bei deinem Sohn glücklicher, nicht wahr?«
» Es reicht, Freda! Ich will nicht mehr darüber reden. Ich denke später darüber nach, aber jetzt habe ich keine Zeit. Du hast die Glocke doch gehört– wir müssen los und mit dem Trupp arbeiten. Wir wollen doch nicht zu spät kommen.«
» Ja, Norfred«, sagte sie unglücklich. » Sei bitte nicht böse auf Freda.«
Er seufzte und tätschelte ihr noch einmal den Arm. » Es tut mir leid, Freda. Ich überlege es mir. Ich verspreche dir, darüber nachzudenken. Komm schon, stellen wir fest, ob wir genug Sonnenmetall finden können, um sogar Darus zum Lächeln zu bringen. Das wäre doch ein Anblick, nicht wahr?«
» Ja, Norfred«, sagte sie schon etwas fröhlicher.
» Es ist nicht genug!«, blaffte Darus Norfred an.
Norfred runzelte die Stirn. » Aber es ist mehr Sonnenmetall, als wir je zuvor gesammelt haben. In einer einzigen Schicht haben wir mehr gefunden als im ganzen letzten Jahr!«
» Nur weil wir endlich eine ertragreiche Ader gefunden haben, können wir uns doch nicht auf die faule Haut legen und unsere Zeit mit Feiern vergeuden! Im Gegenteil! Wir sollten uns angespornt fühlen, sogar noch härter zu arbeiten, da unsere Mühen nun endlich Früchte zu tragen beginnen. Wir haben den Hohen Herrschern schon für zu lange Zeit viel zu wenig geliefert. Wir müssen das Sonnenmetall so schnell wie möglich zu ihnen bringen, damit es uns alle retten und vielleicht gar das Kriegsglück zugunsten der Hohen Herrscher wenden kann. Also hör auf mit deinem selbstsüchtigen, schändlichen Jammern, Norfred, und bring dieses Vieh zurück zur Arbeitsstelle!«
Norfred stellte sich zwischen Freda und den Steiger. » Sie ist erschöpft! Du hast sie zwei Schichten durcharbeiten lassen. Wenn du sie noch weiter schindest, wird sie bestimmt krank. Und wie stehen wir dann da? Setz nicht alles, was wir erreicht haben, kurzsichtig aufs Spiel!«
» Vergisst du, wer hier der Steiger ist, Alter?«, fragte Darus hämisch. » Wirst du auf deine alten Tage wirr im Kopf? Vergisst du, wer wem Anweisungen erteilt?«
» Sch…schon gut, ich kann noch ein bisschen arbeiten«, stöhnte Freda.
Norfred beachtete sie gar nicht und richtete sich zu seiner vollen Körpergröße auf. Freda wusste, dass sein Rücken es ihm später nicht danken würde. » Darus«, sagte Norfred heiser, » ich bin nicht so wirr im Kopf, dass ich schon vergessen hätte, wie ich dich als Säugling auf den Knien geschaukelt habe. Ich bin nicht so wirr im Kopf, dass ich vergessen hätte, dass ich dir das Fell gerben musste, weil du als kleiner Junge Äpfel aus dem Lagerraum gestohlen hattest. Ich bin nicht so wirr im Kopf, dass ich vergessen hätte, wie du mich um Rat gebeten hast, als man dich vor nicht allzu langer Zeit zum Steiger ernannt hat. Und ich bin nicht so wirr im Kopf, dass ich nicht erkenne, wenn die Urteilskraft eines Mannes von seinem selbstsüchtigen Wunsch, aufzusteigen, getrübt wird!«
» Wie kannst du es wagen!«, fuhr Darus ihn so laut an, dass seine Stimme auf der ganzen Bergwerksebene widerhallte. Mit vor Zorn wildem Blick stürzte er sich auf den alten Mann und versetzte ihm mit dem Handrücken einen brutalen Schlag ins Gesicht.
Norfred brach auf dem Boden zusammen. Darus schrie auf, als er bemerkte, dass er sich den Arm, der erst vor Kurzem geheilt war, wieder gebrochen hatte.
Mit einem Brüllen, das lauter als jeder Felssturz war,
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