Das Wispern der Schatten - Roman
da man ihnen die Zungen herausgerissen hatte, damit sie nichts von dem erzählen konnten, was sie im Labyrinth des Großen Tempels sahen und hörten, aber sie waren alle aufs Äußerste auf die Schwingungen des Ortes und den Willen der Herrscher des Reichs eingestimmt.
Es ist D’Selle. Macht dem Erlöser den Weg frei, sodass seine Augen nicht unsere Unvollkommenheit erdulden müssen und nicht gezwungen sind, uns zu verbrennen. Bewegt euch rasch und haltet dann still!
D’Selle wallte durch den Großen Tempel und entnahm aus den primitiven Gedanken der Diener, wo er D’Shaa finden würde, eine weit jüngere und geringere Erlöserin. Er war vor einigen Jahrhunderten überrascht und ein wenig gekränkt gewesen, als die Ältesten es einer so unerfahrenen Erlöserin wie D’Shaa gestattet hatten, zum ordnenden Intellekt des Südens zu werden, aber jetzt war D’Selle froh darüber, denn das hatte ihm letztendlich leichte Beute verschafft. Wenn er erst die geringere Erlöserin vernichtet und ihre Macht seiner eigenen hinzugefügt hatte, würden die Ältesten sicher keine Wahl mehr haben, als ihn in ihren Rang zu erheben und ihm einige ihrer alten Geheimnisse zu offenbaren.
Er gelangte in die gewaltige Galerie, in der D’Shaa reglos verharrte, und blieb stehen, um zu warten. Es war unverzeihlich herausfordernd und überdies gefährlich, einen Erlöser aus dem Wachtraum aufzustören, und so musste D’Selle sich mit der Hoffnung begnügen, dass D’Shaa seiner Nähe bald durch den Traum hindurch gewahr werden würde. Sie würde sich vielleicht trotz allem entschließen, seine Gegenwart zu ignorieren, aber er verließ sich darauf, dass sie keinen guten Grund dazu hatte.
Zu seiner Erleichterung öffnete sie innerhalb der nächsten Stunde die Augen und wandte sich ihm zu. » D’Selle.« Sie nickte steif. » Was willst du von mir?«
D’Selle verneigte sich leicht. » Ich komme nur, um mich zu erkundigen, ob in deiner Region alles zum Besten steht.«
D’Shaa spähte durch den Wachtraum. Wie sie selbst war ihr Heiliger jung, aber fähig. Natürlich beging Azual Fehler, aber nie zweimal denselben. Seine Macht war rasch gewachsen, und die südliche Region war gefestigt und wohlhabend geworden und trieb sogar in gewissem Umfang mit dem gesetzloseren Osten Handel. Doch wie D’Shaa es befürchtet hatte, glaubte Azual mittlerweile, über sein Heiligendasein hinausgewachsen zu sein. In der Hinsicht waren die jüngsten Herausforderungen in Gottesgabe eine nützliche Warnung für ihn. Sie war gern bereit, kurzfristig die Stabilität des Südens zu opfern, wenn sie dadurch auf lange Sicht einen demütigeren und umsichtigeren Heiligen gewann. Es tat Azual nicht gut, wenn alles nach seinem Willen ging.
Doch abgesehen von den ihren Heiligen betreffenden Erwägungen beunruhigten die Herausforderungen in Gottesgabe D’Shaa. Ihr Instinkt verriet ihr, dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelte, sondern eher um Teile eines unterschwelligen Musters zusammenhängender Einflüsse. Zu ihrem Ärger konnte sie dieses Muster nicht so recht erkennen, aber sie hatte den Verdacht, dass das Geas sich nach zahllosen Zeitaltern im Verborgenen wieder zu manifestieren begonnen hatte. Wenigstens hatte sie diesen Verdacht gehabt, bis D’Selle es sich herausgenommen hatte, sie aufzusuchen.
Sie war sich mit Bestürzung bewusst geworden, dass er sich in der Galerie befand. Warum war er hergekommen? Welche Umtriebe steckten dahinter? Und warum zeigte er sich ihr so offen als möglicher Feind? Er verzichtete so doch sicher auf seinen Vorteil– oder hatte er es etwa darauf abgesehen, eine bestimmte Reaktion zu provozieren, die sich gegen sie verwenden lassen würde? Natürlich war angesichts der raubtierhaften Natur ihrer Art jeder Erlöser ein möglicher Feind für sie, aber es war besorgniserregend, dass einer von ihnen sich entschloss, so offen zu zeigen, dass seine Aufmerksamkeit ihr galt. Vielleicht wollte er zur Schau stellen, dass er sich vor ihr nicht fürchtete, um so ihr Selbstbewusstsein zu untergraben und sie zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. Er wollte sie womöglich in die Defensive drängen, statt selbst von ihr angegriffen zu werden. Was auch dahinterstecken mochte, sie konnte ein gewisses Erschrecken nicht unterdrücken– und das mochte heißen, dass er bereits gewonnen hatte! Da ihr Gleichgewicht bedroht war, beschloss sie, die Augen zu öffnen und ihn ins Gespräch zu verwickeln, um so vielleicht Informationen zu
Weitere Kostenlose Bücher