Das Wispern der Schatten - Roman
werden. Zugleich würde er die Berge von den Heiden säubern oder aber die Heiden von ihrer Verderbtheit. Er würde das Reich zum Wohle aller und zum künftigen Ruhm der gesegneten Erlöser vergrößern.
Nun waren ihm das Brennen und der Schmerz der Gerte willkommen, denn sie brachten ihn der Reinheit und Göttlichkeit näher. Der Schmerz war jetzt eine Freude, eine religiöse Ekstase der Offenbarung und Erleuchtung. Und der knochige Rücken des Maultiers war keine Strafe mehr, sondern eher eine süße Geißel für den Teil seines Fleisches, der am anfälligsten für Versuchungen und die wüsten Einflüsterungen des Chaos war. Er durfte es seinem Körper nicht gestatten, ihn zu beherrschen und gar noch seinen Glauben in Mitleidenschaft zu ziehen: Vielmehr musste sein Glaube seinen Körper beherrschen.
Doch wird dein Glaube dich nun nähren, da ein Großteil deines Proviants aufgebraucht ist? Schweig! Er schlug heftig mit der Gerte zu, riss das Fleisch auf und ließ Blut in sein weißes Hemd strömen. Genau wie seine Gemeinde ihn in Gottesgabe pflichtgemäß mit Nahrung, Unterkunft und Kleidung versorgt hatte, würde sein Glaube dafür sorgen, dass er hier in der Wildnis etwas zu essen fand. Er hatte auf seiner Reise schon mehrfach Winterbeeren und Pilze gesehen. Aber du weißt nicht, welche davon giftig sind, und wagst es nicht, sie versuchsweise an das Maultier zu verfüttern.
Er peitschte kräftiger und tiefer als zuvor, zuckte nicht und unterdrückte jedes Wimmern. Der Glaube verlangte keine Antworten und Garantien. Wenn überhaupt, dann wies der Glaube solche Forderungen von sich, denn sie waren aus dem Chaos geboren und versuchten, einen durch nachträgliche Zweifel, Angst und Einschüchterung zur Mitarbeit zu bewegen. » Aufopferung und Pflichterfüllung beschirmen das Volk vor dem Chaos«, zitierte er bei sich aus dem Buch der Erlöser. Außerdem war es ohnehin nicht gut, den Körper zu verzärteln, damit er sich gar nicht erst an solchen Luxus gewöhnte, sich selbst bemitleidete, wenn er nicht zur Verfügung stand, und dann zu schwach wurde, gottgewollte und angemessene Strafen klaglos zu ertragen.
Der Prediger lächelte, hob den Unterarm an den Mund und saugte das hervortretende Blut ein. Er tätschelte auch das Maultier, aber das dumme Vieh ließ nicht erkennen, dass es das auch nur bemerkte. Manche Geschöpfe konnten einfach nicht gezüchtigt oder ermuntert werden. Wie Jillan konnte man sie nicht erfolgreich unterweisen oder tadeln. Wie das Chaos waren sie von Natur aus verderbt, sodass man nur auf eine Art und Weise mit ihnen fertigwerden konnte: indem man sie vollkommen vernichtete.
Der Sonderbare ruhte nie und konnte keine Ruhe finden, so sehr und so lange er sich auch schon danach sehnte. Das Leben und die Gedanken anderer Geschöpfe nagten und zerrten ohne Unterlass an den Rändern seines Wesens. Je mehr das Geas gewachsen war, desto schlimmer war es damit geworden, und so war der Sonderbare froh über die Ankunft der Andersweltler und die brutale Verdrängung des Geas gewesen. Er hatte ihnen sogar geholfen, diese kindischen kleinen Götter Sinisar, Wandar, Gar und Akwar zu stürzen, war aber nicht so weit gegangen, den Andersweltlern zu helfen, das Geas und alle Macht dieser Welt an sich zu reißen. Er wollte schließlich nicht, dass die Andersweltler zu mächtig wurden, denn dann würden sie noch auf den Gedanken kommen, sich gegen ihn zu wenden, um ihm seine Geheimnisse abzupressen. Wenn die Macht dieser Welt irgendjemandem gehören sollte, dann ihm, und wenn er sie nicht bekommen konnte, dann würde er dafür sorgen, dass sie zerstört wurde, damit sie nicht in die falschen Hände fiel.
Er hatte seine Beweggründe immer vor den Andersweltlern geheim gehalten, denn er wollte nicht, dass sie ihn verstanden und so in die Lage versetzt wurden, seine Handlungen vorauszusagen. Seine anfängliche Hilfsbereitschaft hatte sie verwirrt, und er hatte sich geweigert, ihnen seinen Namen zu nennen, sodass sie ihn stattdessen immer den Sonderbaren genannt hatten. Ihnen seinen Namen mitzuteilen hätte es ihnen ermöglicht, einen Teil seines Wesens zu verstehen, und das wollte er wahrhaftig nicht.
Es bestand ein unsicheres Bündnis zwischen ihm und den Andersweltlern. Sie hatten keinen Grund, ihm zu vertrauen, und nach allem, was er gesehen hatte, vertrauten die Andersweltler nicht einmal einander. In mancherlei Hinsicht überraschte es ihn, dass es ihnen überhaupt gelungen war, zu einer Macht im Kosmos zu
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