Das Wispern der Schatten - Roman
Erbarmen! Ich habe nichts getan. Der Heilige und die Erlöser sehen, was ihr tut!«
Der Große Harald und Pferd führten Hager in die Dunkelheit zwischen den Bäumen, indem sie ihn halb schleiften, halb trugen. Die anderen folgten ihnen. Der Hauptmann warf einen Blick über die Schulter auf Freda, die wie angewurzelt dastand.
» Bitte mach es dir am Feuer bequem. Ich möchte mit dir sprechen, nachdem wir uns um Hager gekümmert haben. Es dauert nicht lange.«
Aber Freda wollte von diesem Ort fortkommen, um nicht die Schreie des Mannes hören zu müssen, den sie zum Tode verurteilt hatte. Sie hielt sich die Ohren zu und rannte davon. Sie tauchte in den Boden ein, aber ganz gleich, wie tief sie sich vergrub, sie konnte ihn noch immer hören. Ich bin ein Ungeheuer, dachte sie düster.
Prediger Praxis versuchte, nicht zu schlecht von dem Heiligen zu denken, als er, wie schon unzählige Male zuvor an diesem Tag, vor Unbehagen schauderte, während er auf dem harten Rücken des übel riechenden Maultiers auf die Ausläufer der südlichen Berge zuritt. Er war in Versuchung gewesen, das Tier Azual zu nennen, hatte aber gerade noch widerstehen können, eine derart offene Blasphemie zu begehen. Der Heilige wusste schließlich alles, was er sagte und tat… vielleicht sogar, was er dachte.
Ja, er musste einen Weg finden, solch ketzerische Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Sonst würden sie ihn von seiner heiligen Mission abhalten, zum heiligen Praxis vom Gebirge zu werden. Nichts durfte seine Mission gefährden, nicht einmal die Gedanken in seinem Kopf. Außerdem waren die Gedanken wohl noch nicht einmal seine eigenen, sondern höchstwahrscheinlich die wispernde Stimme des Chaos, die von nun an eine noch unablässigere Bedrohung darstellen würde, da er sich über die Grenzen des Reichs und der Zivilisation hinausbewegte.
Ich wette, Azuals Mutter wäre dieses Maultier als Sohn ohnehin lieber gewesen. Siehst du, da war noch einer von diesen Gedanken! Aber wie sollte er sie verbannen? Schmerzen würden seinen Verstand von dem Wispern ablenken, wie er wusste, und so verschwendete er keine Zeit, seinen langen schwarzen Mantel auszuziehen und den weißen Ärmel seines Hemds hochzukrempeln, um das milchweiße Fleisch darunter freizulegen. Dann hob er seine Reitgerte– die das Maultier bisher ohnehin fröhlich ignoriert hatte– und peitschte sich damit über den Unterarm. Er wimmerte vor Schmerz, und ein roter Striemen erschien auf seiner Haut. Sein Körper war offensichtlich zu schwach, seine gottgewollte, angemessene Bestrafung klaglos zu ertragen, und würde weiterer Bestrafung bedürfen, bis er gelernt hatte, nicht mehr so wehleidig und damit anfällig für die verlockenden Versuchungen des Chaos zu sein.
Wie gern er mit einer Peitsche auf Azual eingeprügelt hätte! Nein! Er schlug abermals zu, biss die Zähne zusammen und weigerte sich aufzuschreien. Besser so. Wenn er seine Schüler häufiger verprügelt hätte, wäre er jetzt vielleicht nicht allein in der Wildnis. Wer die Rute schont, verdirbt das Kind. Jillan war schuld, dieser böse, verhexte Junge. Der Junge war sogar so verabscheuungswürdig, dass er wahrscheinlich noch nicht einmal ein Mensch war– ja, er war zweifelsohne irgendein Wechselbalg aus dem Chaos. Und seine Eltern hatten in dieser Jauchegrube des Chaos, Neu-Heiligtum, gelebt, bis der Heilige gekommen war und den Ort gesäubert hatte. Die Mutter hatte es bei irgendeinem heidnischen Ritual sicher mit Dämonen und Teufeln getrieben– ja, jetzt konnte er es vor sich sehen! Wie schwach doch das Fleisch war! Er schlug wieder auf seinen Unterarm ein und spürte den Schmerz kaum noch, da sein Glaube ihm nun die Ränke des Chaos enthüllt hatte, um ihn in die Lage zu versetzen, verderblichen Einflüssen und Blendwerk zu widerstehen.
Der Heilige war so weise und barmherzig gegen das Volk, wie er schrecklich und unerbittlich gegen das Chaos war. Der Heilige hatte gesehen, dass Jillan und nicht der pflichtbewusste Prediger die Schuld an allem trug, was vorgefallen war. Er hatte auch gesehen, dass jemand, der so fromm wie der Prediger war, an ein Nest wie Gottesgabe verschwendet war– und dass Praxis bereit war, auf den Weg zur Heiligsprechung entsandt zu werden, denn nichts anderes war die Reise in die Berge. Auf seiner letzten Reise als Prediger würde er seinen Verstand und Körper vollkommen reinigen, um sich darauf vorzubereiten, zum Gefäß für den göttlichen Willen der gesegneten Erlöser zu
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