Das Wispern der Schatten - Roman
werden, aber so war es geschehen.
Die Andersweltler wandten sich gelegentlich mit der einen oder anderen Bitte an ihn. Manchmal tat er ihnen den Gefallen– wenn er fand, dass es in seinem Interesse lag, oder wenn die Sache harmlos war und er sie überraschen wollte–, manchmal wies er sie verächtlich oder mit geheucheltem Bedauern zurück. Im Gegenzug verlangte er, dass sie ihm ein Gehäuse aus Sonnenmetall bauten und darum ein weiteres und noch eines und so weiter, damit er einen Ort hatte, den das Leben und die Gedanken der anderen Wesen dieser Welt nur unter Mühen erreichen konnten, einen Ort, an dem die tosende Qual ihres Daseins zu einem raunenden Ärgernis zusammenschrumpfte, einen Ort, an dem er nicht ständig am Rande des Wahnsinns stand.
Das Gehäuse war sein einziger Zufluchtsort, aber nun klopfte jemand an die äußerste Hülle. Jemand kam herein! Er nahm rasch eine graue, vage menschenähnliche Form an, denn er wollte nicht, dass die Andersweltler seine wahre Gestalt und seinen Ursprung erkannten. So wartete er darauf, dass der Besucher sein Allerheiligstes betreten würde.
Der Besucher klopfte beim Näherkommen an die Wand jeder Kammer, um den Sonderbaren frühzeitig von seinem Erscheinen in Kenntnis zu setzen. Insgesamt pochte es sechs Mal, dann begann die kleine, letzte Tür sich zu öffnen. Ein gertenschlanker Andersweltler bückte sich tief, um hereinzukommen, und richtete sich dann zu seiner vollen Größe auf, mit der er bis fast an die Decke reichte. Der Andersweltler beschattete sich die Augen mit der Hand, da das helle Licht des Sonnenmetalls ihm einiges Unbehagen bereitete.
» Wer von ihnen bist du?«, fragte der Sonderbare in gleichmütigem Ton. » Für mich seht ihr alle gleich aus.«
Der Andersweltler nickte mit dem elegant geformten Kopf, eine Geste, die der Sonderbare nicht ganz verstand, aber für eine Art gutes Benehmen hielt. » Ich bin Thraal, derjenige, der schon die letzten drei Male mit dir gesprochen hat. Man sagt, dass meine Wangen breiter und kantiger sind als bei den meisten anderen meiner Art.«
» So? Nun, ich nehme an, es spielt ohnehin keine Rolle, welcher von ihnen du bist?«, fragte der Sonderbare ohne besondere Betonung.
» Wie du sagst, Sonderbarer. Ich besuche dich als Vertreter meiner gesamten Art, also spielt es wirklich keine Rolle.«
» Nur, damit ich es einschätzen kann: Wie viel Zeit ist seit deinem letzten Besuch vergangen?«
» Ungefähr dreihundert Jahre.«
» Hat sich die Welt sehr verändert? Wie steht es um euer Reich? Es kann darum ja nicht zu gut bestellt sein, wenn du mich besuchen musst.«
» Im Gegenteil«, antwortete der Andersweltler geschmeidig. » Und vielleicht wirst du das bald selbst sehen. Aber ich bin neugierig. Was hast du die letzten dreihundert Jahre über getan? Was machst du hier drinnen ganz allein in deiner Kammer? Was nährt dich? Hält das Sonnenmetall nicht fast alle Energie davon ab, hier einzudringen?«
Der Sonderbare unterdrückte ein Gähnen. » Hast du mir diese Fragen nicht schon bei deinem letzten Besuch und denen davor gestellt? Weißt du, ich halte mich beschäftigt. Ich schlafe ein bisschen, meditiere ein wenig, dichte schreckliche Verse– das Übliche eben, ungefähr das, was ihr auch tut, wie ich vermute. Und wovon ich mich ernähre, nun ja… Die Vorfreude auf deinen nächsten entzückenden Besuch ist alles, was ich brauche, um bei Kräften zu bleiben, Thraal. Aber genug von meinen unzüchtigen Gedanken über dich. Was kann ich für dich tun?«
Der Andersweltler blinzelte langsam, als ob er sich jedes Wort, das der Sonderbare gesprochen hatte, ins Gedächtnis einprägte oder die Äußerungen stumm mit anderen seiner Art teilte. » Wir möchten, dass du uns einen bestimmten Jungen bringst. Ihm steht die Art von Macht zu Gebote, die wir beim Volk seit langer Zeit nicht mehr gesehen haben. Wir wollen, dass du der Pest Einhalt gebietest, die in der südlichen Region ausgebrochen ist. Wir vermuten, dass es eine Verbindung zwischen dem Jungen und der Pest gibt.«
» Sieh mal einer an! Ein altmodischer Bringer von Seuchen und Flüchen.« Der Sonderbare lächelte mit einem Anflug von Nostalgie.
» Es gibt noch etwas Drittes, das wir uns wünschen.«
» Oh, es tut mir leid, wenn ich dich unterbrochen habe. Ich bin nicht gut darin, die Form strikt zu wahren, das weißt du doch. Ich bekomme Rückenschmerzen, und die wiederum wirken sich nachteilig auf meine Hämorrhoiden aus, die mir fürchterliche
Weitere Kostenlose Bücher