Das Wörterbuch des Viktor Vau
nahm er die Schüssel und schüttete das Wasser vorsichtig auf den Kellerboden. Er griff zu einem Schrubber, der neben seinem Seziertisch lehnte, und verteilte die Flüssigkeit im Raum, bevor er sie von den Wänden aus zum Abguss in der Mitte schob.
Als der letzte Tropfen abgeflossen war, zog er die Gummihandschuhe aus und packte das Reinigungsmittel, die Tücher und das Desinfektionsspray in die nunmehr leere Schüssel. Befriedigt sah er sich um. Er hatte die Handschellen und seine Arbeitswerkzeuge sorgfältig desinfiziert und anschlieÃend gesäubert, wie er es jede Woche zu tun pflegte. Das machte er auch dann, wenn er den Raum nicht benutzt hatte. Ordnung und RegelmäÃigkeit waren wichtige Stützpfeiler seiner Tätigkeit, und davon wich er keinen Millimeter ab.
Der Florist schloss die Tür auf und verlieà mit seinen Utensilien den Raum. Er stand in einem langen, von Neonröhren erleuchteten Kellergang. Rechts und links gingen weitere Stahltüren ab. Er folgte dem Gang bis zu seinem Ende, öffnete eine weitere Tür und betrat das Parkhaus. Sein Auto war direkt neben der Tür geparkt. Schnell waren die Schüssel und Reinigungsutensilien im Kofferraum verstaut. Dann fuhr er in Richtung Ausgang.
Eine halbe Stunde später saà er in einem kleinen Park an einem Steintisch, in den ein Schachbrett eingelassen war. Der Sommer ging zu Ende, und er genoss die letzten Sonnenstrahlen des Tages, die schon deutlich an Wärme verloren hatten.
Der Florist versuchte sich zu erinnern, wie er diese Jahreszeit als kleiner Junge empfunden hatte. Es fiel ihm zunehmend schwerer. Er hatte zwar noch Zugang zu den Informationen; so wusste er beispielsweise genau, dass seine GroÃmutter an einem Septembertag gestorben war, nicht lange nach seinem zehnten Geburtstag. Aber das war nur eine Tatsache, an die er sich erinnerte, ohne jeglichen emotionalen Gehalt. Er empfand weder Trauer noch ein anderes Gefühl, wenn er daran dachte. Wenn er heute durch seine Erinnerungslandschaften wanderte, waren das öde, leere Wüsten ohne Sonne und angefüllt mit einer bleiernen Stille. GroÃe Tafeln am Wegesrand beschrieben die Episoden aus seiner Vergangenheit in nüchternen Worten. Das war alles.
Früher war das anders gewesen. Er konnte sich noch entsinnen an Erinnerungen voller Gerüche, Farben und Töne, die er nicht nur vor seinem inneren Auge sehen, sondern auch in seinem Körper spüren konnte. Doch das war lange her, in einer Zeit, in der er noch gesund war.
Denn dann war die Krankheit gekommen.
Es war keine Krankheit, die man mit einer Operation hätte heilen können. Sie spielte sich allein in seinem Kopf ab und war für alle unsichtbar. Alle, bis auf ihn und den Arzt, der ihn schlieÃlich geheilt hatte.
Und mit dem Ende der Krankheit war auch der Florist geboren worden. Es war fast so, als habe er nur auf diesen Moment gewartet, die ganzen Jahrzehnte tief verborgen an einem versteckten Ort im Inneren, bis seine Zeit gekommen war.
Der Florist hatte die Führung übernommen. Und doch dauerte es noch einige Jahre, bis er zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung trat. Er musste sich gründlich auf seine neue Aufgabe vorbereiten, und das ging nicht von heute auf morgen. Räumlichkeiten mussten angemietet werden, Werkzeuge beschafft und Techniken erlernt. Und das alles, ohne Spuren zu hinterlassen. AuÃerdem waren da noch Vorbehalte aus seinem früheren Leben, die zu langen inneren Diskussionen führten, bis er einsah, dass dies seine Bestimmung war.
Dennoch stellten sich manchmal Fragen ein. So wie dieses Mal.
Er betrachtete die Fotos vor sich auf dem Steintisch. Sie waren mit einem Teleobjektiv aufgenommen und zeigten eine junge Frau in unterschiedlichen Situationen. Mal saà sie mit einem älteren Mann an einem Tisch in einem Bistro, mal ging sie mit zwei jungen Männern eine belebte StraÃe entlang. Eine Aufnahme zeigte sie, als sie ein Wohnhaus verlieÃ, ein anderes beim Betreten eines Supermarkts.
Der Florist stützte das Kinn in die Hände und überlegte. Die Anweisungen waren, wie immer, eindeutig gewesen. Er musste die Welt von dieser Person befreien. Und doch war etwas anders als sonst. Bislang hatte er sich ausschlieÃlich Frauen angenommen, die ein liederliches Leben geführt hatten. Sie hatten ihren Körper verkauft oder andere dazu gebracht, sich gegen Geld den Männern hinzugeben. Aber diese Frau war
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