Das Wörterbuch des Viktor Vau
Vau«, stellte Viktor sich vor. Er zog den Brief aus der Tasche, den Malango ihm gegeben hatte. »Dies ist gewissermaÃen meine Legitimation«, sagte er und reichte ihn dem Männlein.
Jonathan nahm den Umschlag und warf ihn achtlos auf den Schreibtisch. »Legitimation? Deine Begleiterin ist mir Legitimation genug. Lasst uns etwas trinken.«
Viktor wollte widersprechen, aber ein warnender Blick Leslies hielt ihn davon ab. Also folgte er dem Männchen, das sich bereits auf dem Weg zur Tür befand.
8.
Jonathan Bissé trat aus seiner Hütte und überquerte die Gasse. Wie üblich hatte sich die Zahl seiner Leibwächter verdoppelt. Zwei von ihnen gingen vor ihm und seinen Besuchern, zwei dahinter.
Die vorbeikommenden Passanten blieben in respektvoller Entfernung stehen. Das war ein Respekt, den er sich schwer erarbeitet hatte. Noch vor zwanzig Jahren hätten dieselben Leute auf ihn gespuckt, denn damals war er ein Nichts. Aber Zähigkeit, Glück und Rücksichtslosigkeit hatten ihn zu dem gemacht, was er heute war: der ungekrönte König des Arizona Market.
Jonathan stammte aus einer armen Familie. Sein Vater hatte in einer der Pinidium-Minen gearbeitet, als diese noch von einem ausländischen Konglomerat betrieben wurden. Das bedeutete sechs Tage Arbeit zu je zehn Stunden, ohne Urlaub und für einen Hungerlohn.
Jonathan hatte oft vor der Hütte seiner Eltern gesessen und die weiÃen Herren in ihren neuen Geländewagen vorbeifahren sehen. Er war damals acht Jahre alt und wusste, dass auch er zwei Jahre später seinem Vater in die Minen folgen würde. Das Geld, das jener am Monatsende heimbrachte, langte kaum, um ihn und seine Geschwister zu ernähren.
Die meisten Kinder im Dorf, die älter als zehn Jahre waren, arbeiteten in der Mine. Sie verdienten deutlich weniger als die Erwachsenen. Die Minenbesitzer hatten die Löhne genau so festgelegt, dass sie zum Leben reichten, aber keinerlei Rücklagen ermöglichten. Ein finanziell unabhängiger Arbeiter hätte ihr ganzes System von Belohnungen und Strafen ins Wanken gebracht.
Jonathan wollte nicht in die Mine. Er hatte gesehen, was sie aus seinem Vater gemacht hatte. Der einstmals fröhliche und kraftstrotzende Mann war nur noch ein menschliches Wrack. Er war ausgemergelt, sein Haar war vorzeitig ergraut, groÃe Flecken prangten auf Armen und Beinen, und ein ständiger Husten machte ihm zu schaffen. Im Dorf munkelte man, das liege an den giftigen Dämpfen, denen die Arbeiter beim Trennen des Pinidiums von dem es umgebenden Erzgestein ausgesetzt waren. Auf eine Tonne Gestein kamen nur wenige Gramm des wertvollen Metalls, das zudem noch eine enge Verbindung mit einem chemisch verwandten Erz einging. Um die verschiedenen Erze voneinander zu trennen, wurden sie in riesige Trommeln geschüttet, in denen sie in einer für Menschen hoch giftigen Lauge gebadet wurden. Wie riesenhafte Waschmaschinen standen diese Trommeln in einer langen Reihe vor dem Minenausgang. Auf Handkarren mussten die Arbeiter die Lauge herbeikarren und in die Trommeln gieÃen. Die herausgespülten Erze wurden in einem offenen Behälter unter dem Trenner aufgefangen und irgendwo in der Nähe in einem speziell dafür gegrabenen Schacht entsorgt.
Weil der Raum unter den Trommeln so knapp war, wurden für diese Arbeit die Kinder eingesetzt. Jonathan war, selbst im Verhältnis zu seinen ebenfalls schlecht ernährten Altersgenossen, klein und schmächtig, und das prädestinierte ihn für den Trommeljob. Er wusste genau, was auf ihn zukam, und dachte Tag und Nacht nur daran, wie er diesem Schicksal entfliehen konnte.
Dann kam der Bürgerkrieg.
Während die Fabrikbesitzer sich zugutehielten, dass sie Kinder erst ab dem zehnten Lebensjahr einstellten, kannten die Rebellen solche Regeln nicht. Wer ein Gewehr halten und es bedienen konnte, war in ihren Reihen willkommen. Als Jonathan davon erfuhr, wusste er, was er zu tun hatte. Im Dunkel der Nacht schlüpfte er aus der elterlichen Hütte, vorbei an den Wachtposten der Minengesellschaft, und verschwand im Dschungel.
Zwei Jahre später kehrte er mit den siegreichen Rebellen in sein Dorf zurück. Inzwischen trug er den Beinamen Sir , den ihm seine Kameraden verpasst hatten, weil er als Einziger die weiÃen Ausbilder immer so angeredet hatte, wie sie es verlangten: Ja, Sir! Nein, Sir! Jonathan, Sir!
Die weiÃen Herren waren einen Tag vor dem
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