Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
die Dünen hinweg, sodass Niccolo bei jeder Kuppe fürchtete, die Riesenvögel könnten sie streifen. Das Licht, das den Sand grau färbte, war jetzt wieder gewöhnlicher Mondschein, gefiltert vom Leib des Aethers, der sich unsichtbar unter den Gestirnen über die Welt spannte.
» Ist es das? «, rief Niccolo in den Gegenwind, als die Finsternis zu Fels erstarrte.
Guo Lao gab keine Antwort, schaute sich nicht einmal um. Aber bald darauf lenkte er seinen Kranich steil nach oben, über die vorderen Felsen hinweg, und dann wieder abwärts. Niccolos Kranich folgte ihm mit letzter Kraft . Das Tier benötigte dri n gend eine Ruhepause.
Von oben sah Niccolo, dass die Felsen wie Spitzen einer Krone aus der Wüste ragten, annähernd rund angeordnet, in ihrer Mitte eine ebene Fläche aus Sand. Zahlreiche Zelte und einige Gebäude aus Stein waren dort errichtet worden. Die Karawanserei lag am Schnittpunkt mehrerer Nomadenrouten, die sich kreuz und quer durch die Taklamakan zogen. Irgendwo dort unten musste es Wasser geben, auch wenn Niccolo keinen See, nicht einmal einen Tümpel entdeckte. Dafür sah er beim Überfliegen des Felsenrings gehauene Rinnen zwischen den Kuppen, die miteinander verbu n den waren und sternförmig ins Zentrum der Formation führten. Mit ihrer Hilfe wurde offenbar der seltene Niederschlag aufg e fangen. Nirgends gab es das geringste Anzeichen von Vegetation, nicht einmal dürres Buschwerk. Er fragte sich, ob es hier übe r haupt noch regnete und wie alt die Auffangrinnen waren; möglicherweise stammten sie aus einer Zeit, als die Taklamakan noch nicht so lebensfein d lich gewesen war.
Guo Lao lenkte den Kranich in einem Bogen über die Zelte und Steindächer hinweg und landete auf einem kleinen Platz vor mehreren Gebäuden, die wie Schachteln in- und übereinande r gebaut worden waren und sich an die Innenseite des Felsenrings schmiegten.
Auf dem Vorplatz standen die Überreste von Händlerständen, halb zerfallene Gerüste aus Stäben und geisterhaft flatternden Planen, manche halb im weißen Sand begraben. Nirgends brannten Feuer, und aus den Zelten ertönte kein Laut; erst jetzt erkannte Niccolo, dass viele Planen nur noch an einzelnen Verankerungen befestig t w aren. Die meisten hatten sich losgerissen und tanzten im kühlen Nachtwind.
» Warum ist hier niemand? «
Er hätte ebenso gut die Felsen fragen können. Guo Lao gab keine Antwort, sprang mit kraftvollem Schwung vom Kranich und löste das riesenhafte Schwert vom Sattel, das Niccolo erst jetzt ins Auge fiel. Er erkannte die Waffe – es war das Schwert Phönixfeder, eine Schwesterklinge von Jadestachel und Silbe r dorn, geschaffen in den Schmiedefeuern der Lavatürme.
Der Xian legte es sich über die Schulter wie eine Holzfälleraxt und wandte sich einer Tür zu, die ins Innere der verschachtelten Gebäude führte.
» Komm! «, rief er.
Niccolo rutschte mehr von seinem Kranich, als dass er abstieg. Der Boden schien unter seinen Füßen zu schwanken, aber die Sorge um Mondkind hielt ihn aufrecht, und er eilte so schnell er konnte hinter dem Unsterblichen her . Noch immer wusste er nicht, was hier geschehen war . Mondkind war ihm zuvorg e kommen; womöglich hatte ihr Kranich den Weg über die Berge genommen und dabei einen oder zwei Tage eingespart. Was dann passiert war, blieb ein Rätsel.
Guo Lao gab Niccolo keine Antworten auf seine Fragen. Schon einmal war Mondkind ihm beinahe unterlegen. Damals hatte sie keine Waffe besessen, die den Xian hätte vernichten können. Jetzt aber trug sie Tieguais Klingenfächer, obgleich auch er ihr offenbar keine Hilfe im Kampf gegen den letzten Xian gewesen war.
Guo Lao ging voran ins Haus. Sein Rücken war mehr als zweimal so breit wie Niccolo, bei jeder Bewegung spannten sich Muskelberge unter dem seidenen Wams . Das Schwert auf seiner Schulter war zu groß und schwer für einen Sterblichen, g e schmiedet allein für dieses Ungetüm von Krieger. Die Klinge war auf einer Seite gerade, auf der anderen gerundet; blankg e zogen sah Phönixfeder eher aus wie ein riesenhaftes Hackmesser, ohne die Eleganz Silberdorns, das Niccolo noch immer auf dem Rücken trug, selbst wenn es ihm hier nutzlos erschien. Die wenigen Tage, in denen Tieguai versucht hatte, ihn den Umgang mit der Götterklinge zu lehren, schienen ein halbes Leben zurückzuliegen. Ohnehin wäre nie ein echter Schwertkämpfer aus ihm geworden.
» Sprich mit mi r «, verlangte Niccolo von Guo Lao, während der ihn durch leere, dunkle Räume
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