Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant
der Tat nichts verändert hatte. Sie lag inmitten wallender Seidenkaskaden. Ihr makelloses Antlitz war starr wie das einer Toten, doch ihr Brustkorb hob und senkte sich in langsamen, ruhigen Atemzügen. Sie war so schön wie eh und je.
Ihre Heilung vollzog sich schrittweise, während sie schlief. Hatte der Liebesbann schon seine Wirkung verloren? Wenn sie jetzt, in diesem Augenblick, erwacht wäre, hätte sie dann noch Gefühle für ihn gehabt? Und wollte er überhaupt, dass sie ihn liebte, wenn der Grund dafür nichts als ein Zauberbann war, nichts als ein Zwang?
Vorsichtig beugte er sich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Lippen. Erleichtert spürte er, dass sie warm waren. Er betrachtete ihre geschlossenen Lider und entdeckte, dass die Augen darunter noch immer zuckten, so als litte sie unter Albträumen.
»Sie hat nicht gesprochen, oder?«, rief er Xixati zu.
»Ich habe nichts gehört«, erwiderte der Drache. »Was hätte sie denn sagen sollen?«
»Nichts. War nur ein Gedanke.«
Einer Eingebung folgend, hob er Silberdorn und legte es vorsichtig auf sie, den Griff auf die Einbuchtung ihres flachen Bauches, so dass die Spitze zwischen ihren Fußknöcheln ruhte. Dann nahm er ihre Hände und kreuzte sie über dem Heft, halb in der Erwartung, dass sich ihre Finger um die Waffe schließen würden. Als sie es nicht taten, schob er sie sanft um das Leder, mit dem der Griff umwickelt war. Während der Flucht vor Guo Lao hatte er sie das Schwert schon einmal tragen lassen. Ob es etwas bewirkt hatte, wusste er nicht mit Sicherheit - andererseits schienen die Waffen der Lavaschmiede jedem, der sie führte, neue Kraft zu schenken. Zudem war sie diejenige gewesen, die Silberdorn und Jadestachel von He Xiangu gestohlen hatte. Vielleicht erkannte das Schwert sie wieder und akzeptierte sie als seine Trägerin.
Er trat einen halben Schritt zurück. Auf den ersten Blick bemerkte er keine Veränderung, doch dann kamen ihre Augen unter den geschlossenen Lidern allmählich zur Ruhe. Silberdorns Nähe hielt ihre bösen Träume fern.
Die Stimme des Drachen dröhnte herüber: »Wenn die Juru auftauchen, denkst du hoffentlich daran, dass die Klinge dir bessere Dienste leisten wird als ihr.«
Niccolo blickte über Mondkind hinweg zum Ausgang der Grotte. Xixati hatte sich wieder draußen vor der Öffnung zusammengerollt und versperrte sie in beide Richtungen. Sein Schädel war erhoben und blickte wachsam hinaus in die Dunkelheit der Vorhöhle. Noch war es dort ruhig, nicht einmal Kampflärm wehte aus den tieferen Ebenen der Dongtian herauf.
Niccolo strich Mondkind über das glatte Haar, löste sich schweren Herzens von ihrem Anblick und näherte sich dem Drachen. Xixati gab ein leises Brummen von sich und mit einem Mal fiel der Drachenkamm auf seinem Rücken in sich zusammen. Der Goldglanz seines Schuppenleibs wurde matter.
»Sie haben die Herzkammer erreicht«, sagte er niedergeschlagen.
»Ist Nugua dort unten?«
Als Xixati nicht sofort Antwort gab, packte Niccolo den Rand einer Schuppe und zog daran. »Kannst du herausfinden, ob sie mit Yaozi in der Herzkammer ist? Ob es ihr gut geht?«
»Meine Brüder und Schwestern kämpfen um ihr Leben.« Xixatis Stimme bebte vor Besorgnis. »Ein Chaos aus Gedankenbotschaften fließt in alle Richtungen. Kriegsrufe ... und Todesschreie.«
Niccolo kletterte an Xixatis Schuppen hinauf und lief über den zusammengerollten Schlangenleib zum Vorderende des Drachen. Xixatis Geweih war winzig im Vergleich zu denen seiner älteren Artgenossen, zwei magere Hornspitzen, die sich erst noch verästeln mussten. Niccolo erklomm den Drachenkopf und hielt sich mit ausgestreckten Armen zwischen den beiden Hörnern fest. Von hier oben aus konnte er nicht in die Augen des Drachen blicken, aber er sah, wie Xixati die Stirn in goldene Falten legte.
»Die unteren Tunnel und Grotten sind voller Juru«, sagte der Drache. »Tausende von ihnen müssen sich dort unten versteckt haben. Sie strömen von überall her zur Herzkammer. Wenn sie die Drachen töten ... oder auch nur genug von ihnen aus ihrer Beschwörungstrance reißen ... dann wird der magische Schild um Pangus Herz zerbrechen. Niemand kann den Aether dann noch aufhalten.«
»Kannst du in Erfahrung bringen, ob es Nugua gut geht?«
Der junge Drache stieß ein Seufzen aus. Seine mannshohen Klauen zogen sich zusammen wie die geballten Fäuste eines Menschen. »Niemand hört meine Fragen«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Sie gehen unter in all dem
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