Das Wuestenhaus
den Umweg an der großen Markthalle entlang, wo das Wasser durch das Brachgelände einiger Industrieruinen und überwachsener Grashänge wie ein ruhiger, duldsamer Strom floss. Es ist noch nicht vorbei, dachte er, als er die von lärmendem Verkehr erfüllte Straße überquerte.
5
Bernhard
Ich schreibe Ihnen, um mich für Maja zu entschuldigen. Ich möchte Ihnen Folgendes sagen: Ich halte Sie in keiner Weise für schuldig. Allein die Annahme ist absurd. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, Sie für den Tod meines Bruders und seiner Frau verantwortlich zu machen. Es war ein Zufall, dass Sie sich auf der Insel getroffen haben, und auf die Idee, die Synagoge zu besichtigen, hätte mein Bruder ebenso gut alleine kommen können.
Ich habe versucht, Maja von der Fahrt nach Berlin abzubringen. Vergeblich. Nun, nach unserer Rückkehr aus Paris, denke ich die ganze Zeit daran, ob Maja Sie vielleicht dazu verleitet hat, uns nachzureisen, ob ich Sie vielleicht dort gesehen habe? Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn man glaubt, jemanden in der Nähe zu spüren, den man gar nicht kennt. Sie müssen darauf nicht antworten, aber ich will Ihnen schreiben, damit Sie wissen, was ich darüber denke. Maja hat so oft von Ihnen erzählt.
Vernichten Sie diesen Brief einfach, wenn er Ihnen lächerlich oder aufdringlich erscheint. Ich weiß, ich
habe kein Recht dazu, Sie mit unseren Familienangelegenheiten zu behelligen. Aber wem sollte ich sonst davon berichten? Nach sechs Jahren ist alles Vergangenheit. Sie sind der Einzige, der vielleicht wirklich nachvollziehen kann, was passiert ist. Sie sollen wissen, was in Paris geschehen ist, um zu verstehen, warum sich Maja so verhält, wie sie es tut. Ich lese regelmäßig Ihre Artikel, kenne Ihre Einstellungen zu gewissen Themen, daher weiß ich, dass Sie alles, was ich Ihnen nun mitteile, vertraulich behandeln werden. Die letzte Woche war sehr anstrengend für mich.
Seit gestern sind wir wieder zurück in Kehl. Bevor ich Ihnen jedoch von dem Aufenthalt in Paris berichte, möchte ich auf Majas Rückkehr von ihrem Besuch bei Ihnen zu sprechen kommen.
Es war spätabends, als Maja vor einer Woche aus Berlin zurückkehrte.
Sie stellte ihre Tasche im Flur ab, umarmte mich und ging in die Küche, wo meine Frau ein kleines Abendessen zubereitet hatte. Maja sagte, sie habe eigentlich keinen Hunger. Als sie das enttäuschte Gesicht meiner Frau sah, nahm sie ihren Teller und legte sich etwas von dem Essen darauf.
Sie meinte, sie würde sich freuen, wieder bei uns zu sein.
Wir aßen schweigend. Dann fragte ich sie, ob das Treffen mit Ihnen geklappt hätte. Sie nickte, ohne mir eine ausführlichere Antwort zu geben. Ich fragte sie, ob sie Ihnen etwas von Paris und der anstehenden, neuerlichen Befragung erzählt hatte. Sie schüttelte
den Kopf und meinte, das gehe nur unsere Familie etwas an.
Ich war ein wenig nervös und meinte, es könnte doch sein, dass Sie, da Sie Journalist sind, sich nun auch, sozusagen objektiv, mit der Sache beschäftigten, vielleicht sogar etwas darüber schrieben.
Maja zuckte mit den Schultern und tat so, als sei diese Frage keine Antwort wert.
Meine Frau gab mir mit den Augen ein Zeichen, sie nicht länger mit Fragen zu quälen. Sie fragte Maja nach einer Weile, ob es ihr denn nun besser gehe.
Sie versuchte zu lächeln und sagte ruhig, dass sie ziemlich müde sei und froh wäre, endlich mal wieder ausschlafen zu können. Sie bedankte sich, dass sich meine Frau so viel Mühe mit dem Essen gegeben habe.
Mein Frau streichelte ihr über den Kopf und sagte, sie würde sich sehr freuen, dass sie wieder zurück sei.
Wir räumten schweigend das Geschirr ab.
Maja hörte in ihrem Zimmer bis spät in die Nacht laute Musik.
Ich saß unten im Wohnzimmer und schaltete mich durch die Fernsehkanäle. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich ging nach oben, klopfte vorsichtig an die Tür ihres Zimmers, mehrfach hintereinander, bis sie öffnete.
Als sie mich sah, waren ihre Augen gerötet. Sie umarmte mich heftig, hielt einen Moment inne und sagte, dass sie uns auf keinen Fall den Abend habe verderben wollen.
Dann begann sie zu weinen. Es war das erste Mal seit Langem, dass ich sie ihre Kontrolle verlieren sah. Ihr ganzer Körper zitterte. Sie drehte sich von mir weg, fast wie ein Kind, das sich schämt, wenn es jemand weinen sieht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. »Ich vermisse sie so«, sagte sie kaum hörbar. Dann trocknete sie sich mit dem Handrücken das
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