Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
auf, dass sie in entgegengesetzter Richtung unterwegs waren. Die beiden atmeten auf, als Frau Barhaupt sie schließlich ins Büro ihres Mannes führte.
Der Ortsvorsteher war in heller Aufregung.
»Besonders Martens drehen durch«, beschrieb er den Freundinnen bartraufend die Situation. »Sie wissen schon, die Eltern von Claudia. Seit den ersten Zeitungsberichten hätten sie keine ruhige Minute mehr. In der Schule würden sie auch dauernd darauf angesprochen, und – das ist jetzt O-Ton Papa Martens: Sie hätten Claudia ja schon viele Marotten durchgehen lassen, aber das ginge nun wirklich zu weit.«
»Und Sophies Eltern?«, erkundigte sich Berit.
»Die machen sich vor allem um Bernie Sorgen«, meinte Pastor Jaeger und goss Berit und Gina Kaffee ein. »Sonst sind sie ganz pragmatisch. Papa Beckers Geschäft brummt, seit Sophie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Insofern sind sie da gar nicht so negativ eingestellt. Bei Sophie scheinen die sich sowieso über nichts mehr zu wundern. Aber Bernie … Kann man ja irgendwie verstehen, dass sie den nicht derart vorführen wollen.«
»Das war ja auch nicht wirklich geplant.« Gina seufzte. »Aber was machen wir jetzt?«
»Keine Ahnung.« Barhaupt raufte sich die Haare. »Mist, es hatte so gut angefangen! Woher zum Teufel wussten Sie das mit dieser Bananenrepublik?«
Der Medienrummel um Grauenfels hatte drei Tage nach der letzten Erscheinung seinen Höhepunkt erreicht. Am Montag nach dem Ereignis hatten die Zeitungen noch skeptisch über die neue Marienerscheinung und Frau Hinzwegens Heilung berichtet. Dann aber hatten sich die Prophezeiungen MM’s Schlag auf Schlag bewahrheitet. Zunächst kam es zu einem weiteren Attentat der IRA in Irland – zum Glück ohne Tote –, und dann wurde in einem Kleinstaat in Afrika eine Regierung gestürzt, die erst wenige Tage im Amt war. Am nächsten Tag hatte die Grauenfelser Marienerscheinung ihre erste Schlagzeile in der Bild: »Muttergottes sagt Regierungswechsel in Borunji voraus. Seherkinder wussten von Militärputsch und IRA-Attentat!«
»Ach, in manchen Staaten wechseln die Regierungen öfter als das Wetter«, bemerkte Berit bescheiden. »Der Trick besteht nur darin, die Vorhersagen offen genug abzufassen. Das mit dem IRA-Attentat zum Beispiel: Das hätte auch auf alle anderen Terrorakte gepasst, jedenfalls alle mit religiösem Hintergrund.«
»Wie auch immer, für mich war’s genial!«, freute sich Barhaupt. »Und nun quillt die Stadt über vor Besuchern. Wir hatten um acht schon dreihundert im Steinbruch. Die machen da einen Radau sondergleichen. Hören Sie mal!«
Als Barhaupt das Fenster öffnete und Berit und Gina angestrengt lauschten, drangen tatsächlich Marienlieder bis in die Stadt. Man konnte sogar den Wortlaut der Hymnen verstehen – eine echte Hilfe zu ihrer Identifizierung. Die Kenntnis der Melodie half nicht so gut weiter, die Menge sang erschreckend falsch.
»Das schreit wahrhaft zum Himmel«, kommentierte Gina. Berit zuckte die Schultern. »Das Gejaule ist die interaktive Note. Bei Marienerscheinungen darf jeder mitsingen, egal ob begabt oder nicht. Aber die Akustik im Steinbruch ist erste Sahne. Was haltet ihr von Passionsspielen, wenn sich das mit den Erscheinungen totläuft?«
»Erst müssen wir es mal wieder in Gang bringen.« Barhaupt seufzte, fuhr noch einmal durch seinen Rübezahlbart und richtete sich dann energisch auf. »Was meinen Sie, fahren wir zu Martens rüber? Um Beckers kümmere ich mich später. Die Stadthalle braucht dringend neue elektrische Leitungen … aber das geht natürlich nur, wenn endlich Geld in die Stadtkassen kommt … Wollen wir mal hoffen, dass Papa Becker die Zusammenhänge begreift.«
»Riskant, aber eine Chance«, meinte Berit. »Diese Martens dagegen … Ich weiß beim besten Willen nicht, was wir da ausrichten sollen. Wir können sie doch nicht einweihen!«
»Also ich habe da tiefstes Vertrauen zu Claudia.« Gina sah erst Berit, dann Barhaupt an. »Der wird schon was einfallen. Absolut undenkbar, dass sie sich den Auftritt entgehen lässt. Bei dem großen Publikum!«
Tatsächlich strömten immer noch Menschen Richtung Steinbruch. Es war inzwischen zwölf, und der übliche Erscheinungstermin rückte näher.
»Vorbeifahren können wir trotzdem mal. Das Rumsitzen macht mich wahnsinnig.« Igor Barhaupt war ein Mann der Tat.
Gina und Berit griffen nach ihren Jacken. Als sie eben im Herausgehen waren, klingelte ein Handy.
Pastor Jaeger kramte kurz in seiner
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