Das Wunder von Grauenfels (German Edition)

wir doch fein raus. – Nun zu dir, Claudia! Wer hat dich betatscht?« Sie beförderte die Notration Tortillachips zutage.
    »Der lange Dünne, mit seinen Spinnenfingern. Ich dachte, ich muss kotzen! Sie haben uns einzeln befragt, und erst war er ganz streng und versuchte, mich in Widersprüche zu verwickeln. Aber dann fing er an mit ›Schau, Claudia, du bist doch ein vernünftiges Mädchen‹ … Und dass ich auch so genug Aufmerksamkeit kriegen würde, hübsch wie ich bin, ich brauchte doch gar keine solche Show abzuziehen. Und dann griff er mir ins Gesicht … eklig … ich wäre am liebsten weggelaufen. Aber ich sollte doch gehorsam sein gegen Kirchenvertreter, und deshalb habe ich nur ganz respektvoll seine Finger von meinem Ausschnitt genommen. Leider hat er deshalb nicht aufgehört …«
    Gina riss die Chipstüte mit den Zähnen auf, um schneller an den Inhalt zu gelangen.
    »Er fing dann an, ziemlich heftig zu atmen, und meinte, ich wollte doch was von ihm und eine Hand wäscht die andere. Ob ich nicht ein bisschen nett sein könnte.«
    »Was?«, fragte Sophie entsetzt. »Ich hab da echt nichts von mitbekommen!«
    Claudia zuckte die Schultern. »Wie denn auch? Du warst da ja im Vorzimmer«, erklärte sie. »Und er hat auch nicht sonderlich laut gehechelt, im Gegenteil, der Kerl hat sich eisern beherrscht, auch hinterher.«
    »Hinterher?« Gina ließ die Chipstüte fallen. »Claudia, du hast ihm doch nicht wirklich … du hast doch nicht …?«
    »Ach was«, meinte Claudia mit Gemütsruhe und hob die Tüte auf, bevor Rex und Mauna sich darauf stürzen konnten. »Ich hab ganz respektvoll gesagt, er möchte doch bitte seine Griffel von meinen Titten nehmen …«
    Berit sog scharf die Luft ein.
    Claudia nahm eine Hand voll Chips. »Und als er dann immer noch weiterfummelte, da habe ich ihm … also da hab ich ihm – wirklich ganz respektvoll – in die Eier getreten.«
    *
Mit Hilfe der Lehre der Kirche und der darin unterwiesenen Gottesmänner sollen die Gläubigen unterscheiden, ob eine Offenbarung wirklich als ein Ruf Christi oder seiner Heiligen anzusehen ist. Im Vertrauen darauf, dass der Heilige Geist sie leitet, prüft die Kirche jede angebliche Erscheinung sorgfältig, wobei sie sich von dem Grundsatz leiten lässt, übernatürliche Einwirkungen nicht vorauszusetzen, solange natürliche Ursachen eine ausreichende Erklärung bieten. Dazu gehört auch die menschliche Einbildungskraft, besonders stark ausgeprägt bei adoleszierenden Mädchen, und die Beeinflussbarkeit durch den Willen und die Ideen anderer, der gerade jüngere Kinder schnell unterworfen sind. Die Geschehnisse rund um den Wald und den Steinbruch von Grauenfels können unter dieser Prämisse nicht als Offenbarungen anerkannt werden, so sehr die nach langen, dunklen Jahren neu erwachte Frömmigkeit der dortigen Bürger zu begrüßen ist. Es besteht insofernkein Anlass, in Zukunft Gottesdienste an den erwähnten Orten abzuhalten oder gar von »Marienerscheinungen« und »Seherkindern« zu sprechen. Auch Heilungserwartungen kranker Menschen zu schüren ist unseres Erachtens nach unverantwortlich. Die heilende Wirkung des Gebets kann im Steinbruch von Grauenfels nicht größer sein als in einer beliebigen Kirche im Rahmen einer Messe, abgehalten von Gottes erwählten Dienern.
    Gina las den Bischofsbescheid vor, und Igor Barhaupt rang die Hände.
    »Was machen wir denn jetzt?«, fragte er verzweifelt. »Wenn das nun überall verlesen wird …«
    »Wir machen natürlich weiter wie gehabt!«, erklärte Berit ungebrochen und strich ihren Pony aus dem Gesicht. Er musste mal wieder geschnitten werden, sie konnte nur noch darunter hervorsehen, wenn er wirklich bauschig hochgeföhnt war. »Was kümmert uns der Bischof? Solange an der Quelle die Krücken von Frau Hinzwegen liegen, kann der sich die Finger wund schreiben. Seine Schäfchen laufen trotzdem zu uns über.«
    »Aber ist das nicht der wahre Hohn!«, erregte sich Gina und wanderte genervt herum. Rex folgte ihr dabei auf dem Fuße. »Ich könnte zu viel kriegen! Einbildung ist besonders ausgeprägt bei adoleszierenden Mädchen! Fehlte nur noch, dass der schädliche Einfluss Evas auf den armen Bernie erwähnt wird! Aber als Prüfer schicken sie uns einen alten Pädophilen! Womöglich gezielt, zur Aktivierung der ›Einbildungskraft‹. Wenn Claudia zur Polizei gegangen wäre, hätte der Kerl geleugnet, darauf hingewiesen, dass das Mädchen sonst ja auch öfter Geister sieht, und sie damit eiskalt